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Ich bin Leben inmitten von Leben
Albert Schweitzer und die Ehrfurcht vor dem Leben
27.03.2025 06:35
Der Gesang der Amsel am Morgen gehört zu den ersten Frühlingsboten. Er erinnert daran: Da draußen ist außer mir noch anderes Leben, das leben will. So wie ich.
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Die Amsel singt wieder. Schon seit einiger Zeit. Früh morgens, ich bin gerade aufgewacht, dringt ihr Gesang durch das geschlossene Fenster. Der Frühling kommt! In der Stadt sind Amseln für mich die ersten Frühlingsbotinnen. Ich mag ihren Gesang. Er klingt nach tiefen, warmen Flötentönen. Er ist so einfallsreich und die Melodie ist etwas melancholisch, finde ich.

Im Frühjahr singen die Amselmännchen besonders intensiv. Sie wollen herausstechen. Sie werben mit lautem, variantenreichem Gesang um die Weibchen. Dafür haben sie sich etwas Besonderes ausgedacht: Sie machen Klingeltöne von Handys nach. Und seitdem immer mehr Leute ihre Handys stummschalten, imitieren sie die Alarmtöne von E-Rollern. Sehr witzig. Und intelligent. Die Amseln gehen mit dem um, was ihnen begegnet. Sie passen sich an, sie wollen überleben, sie suchen nach einem Platz für sich.

"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Albert Schweitzer, der evangelische Theologe und Mediziner, hat das gesagt. "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Die Amsel vor meinem Schlafzimmerfenster will leben so wie ich auch. Einfach nur leben. Singen, Neues ausprobieren, eine Gefährtin, einen Partner finden, Leben erhalten, Leben weitergeben.

Für Albert Schweitzer verbindet das alle Lebewesen. Wir Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, die über den anderen Tieren stehen. Von Krone steht nichts in der Schöpfungserzählung der Bibel. Da bekommt der Mensch den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Das ist etwas Anderes als Ausbeutung.

Albert Schweitzer spricht von der "Ehrfurcht vor dem Leben", die wir Menschen entwickeln sollen. Schon als Kind hat er den toten Käfer am Wegesrand betrachtet und gespürt: Da ist etwas, das lebt, das um sein Dasein ringt wie du. Der Käfer erfreut sich an der Sonne wie du. Er kennt Angst und Schmerzen wie du und ist am Ende nichts mehr als verwesende Materie. Wie du.

Ich empfinde vieles so wie er. Ich rette Käfer vom Wanderweg, damit sie nicht zertrampelt werden. Finde ich einen toten Vogel, lege ich ihn in ein Bett aus Laub und Zweigen. Aber es fällt mir schwer, Vegetarierin zu werden, obwohl ich das folgerichtig fände. Dennoch: Ich bin auf dem Weg, ich will es versuchen. Lambarene, der Name von Schweitzers Krankenhaus, heißt übersetzt: "Wir wollen es versuchen!"

Ehrfurcht vor dem Leben kann jede und jeder entwickeln. Sie beginnt vor der eigenen Haustür, begleitet vom Frühlingsgesang der Amsel. Winterlinge, Krokusse und Tulpen quetschen sich durch das harte Erdreich ans Licht – weil sie leben wollen. Blaumeisen suchen eifrig nach Baumaterial für ihr Nest – weil sie leben wollen. Halsbandsittiche leben ursprünglich im südlichen Afrika und in Indien, haben sich mittlerweile aber in den Parks von Köln und Paris eingerichtet. Im Central Park in New York hat die Weißfußmaus ein Gen ausgebildet, mit dessen Hilfe sie fettreiche Nahrung wie Pizza und Hot Dog besser verdauen kann. Und das alles, weil diese Lebewesen leben wollen.

Mir nötigt das eine gehörige Portion Ehrfurcht vor dem Leben ab. Vor dem Einfallsreichtum und dem Lebenswillen. Im Frühling kann man das an jeder Ecke mit Händen greifen, spüren, riechen. Der Wille zum Leben liegt in der Luft. Alles sprießt und wächst und singt und buddelt und hüpft und freut sich am Leben.

"Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut", steht in der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Alles ist sehr gut. Alle wollen leben und ich mittendrin.

Es gilt das gesprochene Wort.

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