epd-bild / akg-images
Hast du eine Jona-Geschichte?
Wie man aus dunklen und stürmischen Zeiten gestärkt hervorgeht
12.11.2023 07:35
Sendung nachlesen:

Den Koffer in der einen, die Tasche in der anderen Hand drücke ich die Tür auf. Vor mir liegt eine Woche im Kloster, in der Kommunität der Christusbruderschaft in Selbitz bei Hof, in Bayern ganz oben, gefühlt am Rand der Welt, abgeschieden und ruhig. Mein Zimmer kenne ich vom letzten Mal, ich freue mich wieder, wie einfach es eingerichtet ist: Schreibtisch, Stuhl, Bett. Auf dem Kopfkissen liegt ein kleines weißes Kärtchen, etwas größer als eine Visitenkarte. Auf der Seite, die nach unten zeigt, steht ein Spruch aus der Bibel, ich erinnere mich, das ist hier ein Brauch, das liegt auf jedem Kissen. Obwohl ich tendenziell skeptisch bin, wenn einem der Zufall so ein biblisches Wort hin spült, bin ich doch gespannt und hoffe auf ein tröstliches Wort. Neugierig drehe ich mein Kärtchen um. Da steht in altmodischen Buchstaben: „Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn und mein Gebet kam zu dir.“

Aha, aus der biblischen Geschichte über den Propheten Jona. Ja, der war ziemlich verzagt, ist vor seiner Berufung weggerannt und im Walfischbauch gelandet. Da hilft dann echt nur noch beten. „Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn und mein Gebet kam zu dir.“

Ich nehme das Kärtchen und lege es auf meinen Schreibtisch. Es wird mich noch begleiten.

Berufung ist ein großes Wort, finde ich. Ich würde es für mich nicht verwenden. Vielleicht klingt es mir zu fromm. Zu ausschließlich. Aber in den letzten Jahren spüre ich zunehmend die Frage in mir nach einem tieferen Sinn, nach einem Ruf, einem Lebensruf. Dem zu folgen, was mich ausmacht, was mein Leben ausmacht. Mich nicht mehr abzulenken, ablenken zu lassen. Deswegen auch die Tage im Kloster, im Kloster auf Zeit. Zur Ruhe kommen, den eigenen Rhythmus finden und ihm folgen. Dreimal am Tag beten. Singen. Schweigen. Ein einfaches Leben. Mich auf mich konzentrieren. Auf mich und Gott. Und das mit diesem Bibelwort aus der Geschichte über Jona.

Das ist der mit dem Wal, dem „großen Fisch“, wie es in der Bibel heißt, der Jona verschluckt und in dessen Bauch er drei Tage und drei Nächte sitzt. Aber da sind wir ja schon mittendrin in dem ganzen Schlamassel. Los geht das Ganze in der Bibel so: „Das Wort des Herrn erging an Jona: Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, der großen Stadt.“

Deutlicher kann man einen Auftrag nicht formulieren.

Jona hört das, hört seinen Lebensruf und ignoriert ihn erstmal. Ich hätte da auch Bammel. Gott spricht, Gott hat einen Plan, eine Idee, eine Berufung für Jona. Hat Jona auch ein Kärtchen auf seinem Kissen gefunden? Auf jeden Fall weiß er sehr schnell, dass er das alles gar nicht will: Ninive! Große Stadt! Auftrag! Er haut ab, bucht eine Schiffspassage ans Ende der damals bekannten Welt. Als er dann auf dem Schiff ist, das ihn weit wegbringen soll, ist er so KO von seiner Flucht, auch von der inneren Flucht vor seinen Lebensthemen, seinem Lebensruf, dass er sich erstmal in den untersten Raum des Schiffes verkriecht und in einen tiefen Schlaf fällt. Nichts kann ihn mehr wecken, kein Sturm, kein Geschrei der Mitfahrer. Jona beamt sich weg. Die Decke über den Kopf. Nix mehr sehen, nix mehr hören, nix mehr sprechen.

Bei manchen Lebenswegen, die ich als Seelsorgerin oder Freundin mitgehe, frage ich mich: Wovor läuft sie oder er davon?

Der eine stürzt sich in jedes Event, jedes Wochenende woanders, Leute treffen, unterwegs sein – wer bist du eigentlich hinter deiner gut gelaunten Maske? Eine andere trinkt Abend für Abend vier Flaschen Bier und auch Wein. Denn abends tut er besonders weh, dieser Schmerz in der Seele, den die Ärztin Depression nennt.

Es gibt so viele Schiffe, auf denen man vor dem eigenen Leben fliehen kann. Ich kenne sie auch: Konsumieren. Ablenken. Eine Zeitlang geht das gut. Ohren zu. Übertünchen. Bis es einen umweht. Bis man so KO ist, dass man nur noch heult und müde ist und gelähmt und sich nach Schlaf sehnt, nach unendlichem Schlaf.

Bei dem einem dauert es länger, bei der andern geht es schneller, aber irgendwann ist nichts mehr mit Davon-Laufen. Auf einmal steht sie unausweichlich im Raum, die Frage: Lebe ich mein Leben oder werde ich gelebt? Erfüllt mich das, was ich tue? Wer bin ich eigentlich?

Es kann sein, du weißt es wirklich nicht mehr. Es zerbricht dein Beruf, deine Beziehung. Es zerbricht dein Glaube. Es zerbricht dir alles, worauf du dich bisher gestützt hast. Deine Gefühle sind taub und dein Suchen nach Ruhe ist nur eine neue Quelle der Getriebenheit. Du fühlst dich wie ein sinkender Stein, die Wellen schlagen über dir zusammen und es zieht dich immer tiefer hinab, immer tiefer …

In der biblischen Geschichte geht es Jona so: Als die anderen auf dem Schiff ihn endlich wachgerüttelt bekommen, sagt er: Ich bin der Grund für diesen Sturm. „Werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen!“ Die anderen zögern erst, aber dann werfen sie Jona über Bord.

Jona sinkt in die Tiefe.

Und gerade da im tiefsten Abgrund „schickt Gott einen großen Fisch, dass er Jona verschlinge“.

Bei mir war es eine Erschöpfungsdepression, die mich aus den gewohnten Bahnen geworfen hat. Ich war am Ende meiner Kräfte, traurig, niedergeschlagen. Mit mir selbst uneins und mit den Menschen um mich herum erst recht. Die liebsten und nahen Menschen leiden am meisten darunter. Helfen können sie nur wenig, ist meine Erfahrung. Manche werfen einen auch über Bord; ein bisschen kann ich das verstehen, man wird anstrengend. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, wenn sie versuchen dazubleiben. Und Geduld haben. Viel Geduld, denn jetzt beginnt die Zeit im Bauch des großen Fisches, in der dunklen einsamen Höhle des Walfischbauchs.

Das ist die Rettung für Jona, das kann die Rettung sein. Zeit für mich und Zeit für Gott. Keine Ablenkung möglich. Mir haben Zeiten mit mir allein, Zeiten im Kloster geholfen. Ein einfaches Zimmer. Abgeschieden und ruhig. Beten. Mein Rhythmus, meine Zeit. Und Jona scheint die Zeit im Walfischbauch auch gut zu tun. Dort hat er seine Ruhe, endlich. Endlich Frieden, nur er mit seinem Gott, keine Aufträge, keine Herausforderungen, keine Ansprüche. Jona genügt sich selbst. Ihm genügt, dass Gott da ist. Ihm genügt, dass er singen kann, dass er beten kann.

Jona realisiert im Bauch des großen Fisches, wie es wirklich um ihn steht. Er betet „Als meine Seele in mir verzagte“ und spürt erstmals seine Angst und – erinnert sich, wer ihm helfen kann. Tief unten sieht Jona sich zum ersten Mal selbst kritisch. Und erkennt: ‚Hilfe ist bei Gott. Und ich, Jona, brauche deine Hilfe, mein Gott.‘

Jona entdeckt, dass der Wal nicht die finale Katastrophe ist, die er sich ja schier herbeigewünscht hat, um endlich vor dem verhassten Auftrag Ruhe zu haben. Der so bedrohlich wirkende Wal ist die Hilfe, ist seine Rettung. Nur anders, als er es gedacht hat. Wenn ich heute auf die letzten Jahre zurückschaue, dann denke ich: Meine Krise ist mein Wal. Meine Erschöpfungsdepression hat mich gerettet. Ich erschrecke über diesen Satz, es tut immer noch ein bisschen weh. Das ist unangenehm, schmerzhaft, bestürzend. Und ich bin immer noch auf dem Weg.

Bei Jona war es der Wal. Bei mir war meine Krise mein Wal. Und das bringt mich zu der sehr persönlichen Frage, die ich mich jetzt mal zu stellen traue: Was ist Ihr Wal, der Sie gerettet hat? Gab oder gibt es so einen Wal in Ihrem Leben, der Sie zur Einsicht über sich selbst gebracht hat?

 

Der Prophet Jona betet im Walfischbauch: „Als meine Seele verzagte, gedachte ich an den Herrn.“ Not lehrt beten, heißt es ja. Aber ich denke, wenn man mal so im Walfischbauch sitzt, hat das eine andere Qualität. Wenn es um mich geht, um mein Leben, mein Lebensthema, dann wird es existentiell. Vielleicht ist das Berufung. Ich bin zu etwas berufen, es gibt in meinem Leben einen Ruf. Da schwingt mit, dass ich mich einer Sache hingebe, mich öffne, für etwas einstehe und mich damit auch verletzlich mache. Man kann die eigene Berufung finden als Bäckerin, als Ingenieur, als Vogelschützerin beim Bund Naturschutz und als ehrenamtlicher Helfer bei der Tafel. Wichtig ist die Verbindung. Die Verbindung zu sich selbst, zu dem eigenen Lebensthema und zu anderen.

Für mich hat diese Verbindung auch viel mit Gott zu tun, mit meiner Verbundenheit mit Gott. Die habe ich vernachlässigt und damit auch mich. Im Gebet spüre ich, dass Gott gegenwärtig ist, jetzt und hier, im Sonnenschein und im dunklen Walfischbauch. Das sind einsame Zeiten, harte Zeiten der Selbsterkenntnis. Das ist nicht immer schön. Aber sie können mich öffnen für meine Lebensaufgabe und mir die Angst nehmen, damit ich nicht immer weglaufen muss.

Die Geschichte von Jona regt mich an, über mein eigenes Leben nachzudenken. Welches Wort von Gott erging an mich und mein Leben? Ist es etwa dieses eine Kärtchen, das da auf meinem Kissen im Klosterzimmer lag?

Kann was dran sein: „Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn und mein Gebet kam zu dir.“ Mein Gebet kam zu dir, mein Gott. Und es kommt wieder zurück zu mir. Beten heißt, verbunden sein. Versinken und wieder aufsteigen. Schweigen und in der Stille hören.

Beten heißt auch, verbunden sein mit der Welt, mit „Ninive“ sozusagen, der großen Stadt, in die Jona gehen soll. Ich lebe nicht abgeschieden, abgetrennt und ziehe mich in mich zurück. Ich bin mittendrin. Und das heißt für mich, dass ich mich engagiere und mitrede und mitdenke und mithelfe. Die Kraft dafür kommt aus dem Gebet, aus der Erfahrung, im Walfischbauch gelandet zu sein, im Dunkel und in der Einsamkeit, das hat mich hellhörig gemacht für meinen Lebensruf, für meine Lebensthemen. Das hat mich durchlässig gemacht für Gottes Gegenwart im dunklen Bauch des großen Fischs und im Licht der großen Stadt. Ich rechne mit Gott. Manchmal auch auf einem kleinen weißen Kärtchen, auf dem steht: „Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn und mein Gebet kam zu dir.“

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

1. Simon Zöchbauer „Achad“: Track 4 „Wald- und Wiegentanz“

2. Maja Taube „Treibgut“: Track 7 „Fundstück Drei“

3. Various “Magic Moments 15”: Track 3: Adam Baldych Quintet feat. Paolo Fresu “Heart Beats”

4. Various “Magic Moments 15”, Track 10: Iiro Rantala “Peace”