Am Sonntagmorgen
Bild: Siegfried Krüger
Eine folgenreiche Reise
Martin Luther King in Deutschland
15.01.2017 07:35

Happy Birthday – diesen weltbekannten Song hat 1980 Stevie Wonder geschrieben. Als Geburtstagsgruß für einen Mann, der da schon 12 Jahre tot war. Und als Aufforderung, diesen Mann mit einem jährlichen Gedenktag zu ehren: Martin Luther King.

 

Heute vor 88 Jahren, am 15. Januar 1929, wurde King in Atlanta geboren. Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater Prediger einer schwarzen Baptistengemeinde und in der aufkeimenden Bürgerrechtsbewegung aktiv. Fromme Leute. Sicher haben sie sich viele Gedanken gemacht, wie sie ihren ältesten Sohn nennen könnten. Die Wahl fiel auf den Vornamen des Vaters: Michael. Michael ist ein Erz-Engel in der Bibel. Er gilt als mutiger Kämpfer – gegen den Teufel und böse Mächte, für das Gute und die Armen und Schwachen. Oft wird er mit einem Schwert in der Hand dargestellt. Michael – ein passender Vorname für den Sohn eines engagierten Predigers. Ein Name mit Programm.

 

Der kleine Michael wächst geborgen in seiner Familie auf. Erlebt, dass Schwarze nicht die gleichen Rechte haben wie die Weißen. Aber auch, dass man etwas dagegen tun kann und muss.

Im Sommer 1934 – Michael ist fünf Jahre alt – macht sich sein Vater Reverend Michael King zusammen mit Kollegen auf eine große Reise. Die schwarzen Theologen sind eingeladen nach Berlin, um dort den baptistischen Weltkongress zu besuchen.

Die Nazis nutzen den Besuch von mehreren hundert Gästen aus aller Welt für ihre Propaganda. Reverend King nutzt die Gelegenheit, nach dem Weltkongress das Land der Reformation zu bereisen. Lutherstätten wie Wittenberg und Eisenach. Und er ist begeistert. Fasziniert von Martin Luther: Wie der gekämpft hat für die Freiheit des Glaubens und die Selbstbestimmung des Menschen!

 

Und vielleicht war es ja während der Rückfahrt über den weiten Ozean an einem ruhigen Abend an Deck, als ihm klar wurde: Ich möchte so heißen wie dieser deutsche Reformator. Nicht mehr Michael, sondern Martin Luther. Seinen Namen tragen und so sein Vermächtnis weitertragen. Ob ihm da auch schon der Gedanke kam, auch seinem kleinen Sohn diesen Namen zu geben? Auch ihm die Haltung dieses Kämpfers einzuschreiben ins Leben?

Nach seiner Rückkehr jedenfalls benennt Michael King sich selbst und seinen Sohn um: Martin Luther King. Wie das für den Fünfjährigen wohl war? Plötzlich ruft die Mutter nicht mehr Michael zum Essen, sondern Martin ... Und wenn sie sauer ist, sagt sie nun streng: Martin Luther, benimm dich!

 

Martin Luther King Jr. ist ein begabtes Kind. Er geht seinen Weg, trotz Hindernissen wegen seiner dunklen Hautfarbe. Schule, College, Soziologie- und Theologiestudium.

Er tritt in die Fußstapfen seines Vaters, wird Pastor derselben Baptistengemeinde, engagiert sich wie er als Bürgerrechtler. Gegen Rassentrennung und soziales Unrecht. Mit diesem ganz entscheidenden, nie hinterfragten Vorzeichen: Gewaltfrei widerstehen.

Dieser Widerstand hat seine Initialzündung 1955, als eine einfache schwarze Frau sich weigert, ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Mann frei zu geben. Und er breitet immer weiter aus, steckt Zigtausende an.

 

Die Freiheitssehnsucht der farbigen Menschen im Land der Freiheit – sie lässt sich nicht mehr einsperren. Auch noch so fanatische Rassisten können diese Vision nicht ausreißen, die Martin Luther King am 28. August 1963 am Lincoln Memorial in Washington Hundertausenden in Kopf und Herz einpflanzt in seiner weltberühmten Rede:

 

„Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in dem man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum.“

 

Für den schwarzen Christen und Enkel eines Baumwoll-Sklaven ist klar: Die Freiheit von Glauben und Gewissen muss in konkrete Freiheit des Lebens, in soziale Gerechtigkeit münden. Aus der Kraft des Glaubens müssen sich Christen einer ungerechten Regierung und unsozialen Gesetzen widersetzen.

So konkret wollte und konnte das der deutsche Reformator Martin Luther in seiner Zeit nicht sehen und folgern. Aber was beiden gemeinsam ist, über den Graben der Geschichte hinweg: Sie kämpfen mit der Waffe des Wortes. Sie schauen dem Volk auf Maul. Reden so, dass die Leute ihnen zuhören, sie verstehen, ihnen glauben. Beide sind Kommunikations-profis. Und was King an seinem Namenspatron persönlich tief beeindruckt: Wie er mutig und unbeirrbar einstand für die Wahrheit, die er erkannt hatte. Wie er sich traute, den mächtigsten Leuten mit der Bibel in der Hand entgegenzutreten: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. So helfe mir Gott.

Auch der neue Martin Luther kann nicht anders. Immer wieder wird er inhaftiert. Schikaniert. Verunglimpft. Seine Familie wird bedroht. Aber er bleibt überzeugt: dieser Gospel, Mottolied der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, er hat Recht: We shall overcome.

 

 

Im September 1964, 30 Jahre nach seinem Vater, reist auch Martin Luther King Jr. nach Europa. Wieder ein Weltkongress der Baptisten, dieses Mal in Amsterdam. Wieder viele, inspirierende Begegnungen in der Alten Welt für den Gast aus der Neuen. Auch Deutschland steht wieder auf dem Besuchsprogramm. King kommt ins geteilte Berlin. In Geschichtsbüchern findet sich dazu wenig.

 

Aber im Jahr 2013 starten zwei Berliner Lehrer mit ihren Schülern ein spannendes Projekt zu diesem Besuch: Sie sammeln Dokumente, besuchen Orte, befragen Zeitzeugen, eine Internetseite entsteht und ein Film. Was ist bei diesem Besuch passiert, was hatte er für eine Wirkung? Der King-Code.

SchülerInnen: „Vor diesem Martin-Luther-King-Projekt wusste ich gar nicht, dass die Welt so voller Rassismus überhaupt ist.“ „Wir, die heutige Jugend sozusagen, muss Geschichte schreiben.“ „Jeder sollte wissen, was Martin Luther King alles gemacht hat.“

„Er hat's halt auch ohne Gewalt geschafft.“

 

Schülerinnen und Schüler, mit und ohne Migrationshintergrund, aus Pankow und Wedding, Ost- und Westberlin, machen sich auf Spurensuche:

13. September 1964

Am frühen Morgen versucht ein bekannter Jockey aus der DDR, in den Westen zu fliehen. Er wird von Grenzsoldaten beschossen. Schwer verletzt liegt er im Todesstreifen an der Mauer. In letzter Sekunde zieht ihn ein amerikanischer Sergeant in die Freiheit.

 

Wenige Stunden später: Martin Luther King spricht auf der Waldbühne in Westberlin. Vor 20.000 gebannten Zuhörern. Er sagt: Die Mauer, dieses Symbol von Unmenschlichkeit und Teilung wird fallen.

 

Die Flucht des jungen Mannes verändert das Besuchsprogramm des prominenten Gastes. King geht zu der Stelle, wo der Flüchtling beschossen wurde. Und in einer streng geheimen Aktion besucht er ihn im Krankenhaus.

Aber er will unbedingt auch nach Ostberlin. Dieser Plan droht zu scheitern. Die US-Behörden wollen nicht, dass King zu den Kommunisten geht. Sie ziehen seinen Pass ein. Am Checkpoint Charlie behauptet King, er habe seinen Pass vergessen und weist sich mit seiner Kreditkarte aus. Ein Wunder, dass er durchgelassen wird ...

 

Offiziell wird der Besuch in Ostberlin nicht angekündigt. Aber der DDR-Buschfunk funktioniert. Die Marienkirche am Alexanderplatz ist bereits überfüllt, als der prominente Prediger dort ankommt. Gesine Schuppan, damals etwa so alt wie die Schüler heute, war dabei und erzählt ihnen davon:

„Ganz enge Atmosphäre, ganz still, obwohl die Kirche ja rammeldicke voll war. Aber ganz gespannte Erwartung. Ich erinnere mich, dass mich sehr angesprochen hat, am Anfang der Predigt die Grüße aus der ganzen Welt, also aus Amerika – wir in der DDR kriegen Grüße aus Amerika, – weil man sich ja eingeschlossen fühlte, und dachte, man ist hier so abgeschottet. Und das war, glaube ich, auch die Erwartung, warum die Menschen alle gekommen sind. Dass da jemand kam, der von Gewaltlosigkeit gesprochen hat, der von seinem Glauben gesprochen hat, der von Freiheit gesprochen hat, von Gerechtigkeit gesprochen hat. Das waren alles Begriffe eigentlich, bei denen man eine Gänsehaut kriegen konnte.“

 

Spontan wird ein zweiter Gottesdienst organisiert in der nahegelegenen Sophienkirche. Wieder saugen hunderte Menschen die Botschaft des schwarzen Predigers auf.

Fasziniert hören sich die Berliner Jugendlichen fast 50 Jahre später das alte Tonband an:

„Hier sind von beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder. Und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen. Ohne Rücksicht auf die Schranke der Rasse, des Bekenntnisses, der Ideologie oder Nationalität gibt es eine untrennbare Bestimmung: Es gibt eine gemeinsame Menschlichkeit, die uns für die Leiden untereinander empfindlich macht. In diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung schlagen. In diesem Glauben werden wir miteinander arbeiten, miteinander beten, miteinander kämpfen, miteinander leiden, miteinander für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden. … Halleluja!“

 

Ob die deutschen Gastgeber am Abend dieses dramatischen Tages schon geahnt haben, dass dieser kurze Besuch erste Risse in der Mauer hinterlassen hat?

Und was mag Martin Luther King jr., wieder zurück in Atlanta, seinem Vater von dieser Reise erzählt haben? Von den Spuren ihres gemeinsamen Namenspatrons ... Von Christinnen und Christen, die – eingesperrt im Land Martin Luthers – Glaubens- und Gedanken- und Lebensfreiheit ersehnen. Von dem Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung ...

 

Drei Monate nach seinem Berlinbesuch, im Dezember 1964, wird dem Bürgerrechtler in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen.

Trotz ihres Wahlrechts werden Farbige schikaniert, wenn sie wählen gehen wollen. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung wird immer radikaler. King gerät immer mehr zwischen die Stühle. Macht sich immer mehr Feinde. Auch weil er gegen den unmenschlichen Vietnam-Krieg demonstriert. Aber er steht beharrlich gerade für seinen Traum. Kann nicht anders. Lässt nicht ab davon: „Keine Gewalt!“.

 

Am 3. April 1968 versucht er bei einem Müllarbeiterstreik in Memphis, Gewaltausschreitungen zu verhindern. Er hält eine bewegende Rede vor den Arbeitern. Wenige Stunden später, am 4. April um 18.01 wird Martin Luther King auf dem Balkon seines Hotels erschossen.

 

 

Martin Luther Kings Traum überlebt. Auch hinter der Mauer steckt er immer mehr Menschen an. Zum Beispiel mit Hilfe von Filmen, die landauf landab in den Kirchen gezeigt werden und von Kings Leben erzählen: Mit Zivilcourage aufstehen. Ohne Gewalt für Gerechtigkeit und Freiheit einstehen.

Und dann – 1989: Tausende auf der Straße. Mit Kerzen in der Hand. Und Hoffnung im Herzen: Wir sind das Volk!

 

Gesine Schuppan: „Diese Einstellung prinzipiell zur Gewaltlosigkeit, die ist nach wie vor hochaktuell und kein Krieg löst irgendein Problem. Und dass die Menschheit nicht klüger wird, das ist – wenn ich jetzt auch älter werde – mir wirklich ein Phänomen.“

 

Im Juni 2013 dürfen die King-Code-Spurensucher dabei sein, als ein anderer Gast aus Amerika Berlin besucht und eine Rede hält: der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten, der in diesen Tagen sein Amt an den Nachfolger übergibt:

Barak Obama: „Wenn wir den Glauben der anderen achten, die in Kirchen und Synagogen, in Moscheen und Tempeln beten, dann befinden wir uns in größerer Sicherheit. Wenn wir die Einwanderer begrüßen, mit ihren Talenten und Träumen, dann werden wir erneuert. ... Dies sind Überzeugungen, an die wir uns halten. Es sind Werte, die uns inspirieren. Prinzipien, die uns als freie Völker verbinden, die wir noch an die Worte von Dr. Martin Luther King jr. glauben, dass die Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort eine Bedrohung der Gerechtigkeit an allen Orten ist.“

 

Schülerin: „Na ja, das war schon sehr beeindruckend, was er da gesagt hat. Also dass wir eben alle zusammen halten müssen, wie Martin Luther King halt, in seinen Reden.“

 

 

Also: Happy Birthday, Martin Luther King!

Seit über 30 Jahren gibt es das, was Stevie Wonder in seinem Geburtstags-Song gefordert hatte: Einen offiziellen Martin-Luther-King-Gedenktag. Immer am 3. Montag im Januar. Morgen also. In den USA ist der King-Day ein gesetzlicher Feiertag. Und hoffentlich da wie auch hier bei uns ein Anstoß, Kings Traum weiterzutragen. Nicht aufzugeben. Sondern wie diese King-Code-Schülerin zu hoffen, „dass ich irgendwie auf 'ne Art bisschen was dazu beitragen kann, dass sich die Welt ein bisschen ändert. Das ist sozusagen mein Traum. Ich hoffe, es klappt. Ich hoffe es wirklich. I have a dream ...“

Am Sonntagmorgen