Im September 1934 schrieb die Berliner illustrierte Zeitschrift „Die Dame“ einen Lyrik-Wettbewerb aus für das schönste Gedicht. Rund 15000 Einsendungen lagen am Ende der Jury vor. Mit mehreren Gedichten beteiligte sich eine junge unbekannte Frau. Einem ihrer Gedichte mit der Überschrift „Die Welle“ wurde der erste Preis zugesprochen:
Heute sah ich wieder dich am Strand
Schaum der Wellen dir zu Füßen trieb
Mit dem Finger grubst du in den Sand
Zeichen ein, von denen keines blieb.
Ganz versunken warst du in dein Spiel
Mit der ewigen Vergänglichkeit
Welle kam und Stern und Kreis zerfiel
Welle ging und du warst neu bereit.
Lachend hast du dich zu mir gewandt
Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr
Denn die schönste Welle zog zum Strand
Und sie löschte deiner Füße Spur. (1)
Die junge, damals noch unbekannte Autorin war Marie Luise Kaschnitz. Ihr Gedicht wurde in Anthologien aufgenommen und mehrfach vertont. Mit spielerischem Ernst, feinsinnig und stimmungsvoll wird in diesen Versen das Lied der ewigen Vergänglichkeit gesungen. Anschaulich wird das spielende Kind, wie es mit dem Finger die Zeichen von Stern und Kreis in den Sand gräbt, die von der nächsten Welle wieder ausgelöscht werden. Sooft es geschieht – das Kind ist darüber weder traurig noch entmutigt, vielmehr bereit, immer neu anzufangen. Es hat sichtbar Freude an dem Spiel mit der ewigen Vergänglichkeit, wie die Dichterin feststellt. Doch sie selbst durchfährt bei dem, was sie sieht, ein großer Schmerz, weil die schönste Welle auch die Fußspur des Kindes löscht.
Vielleicht sollten wir wie das Kind spielerisch mit der Vergänglichkeit umgehen. Dazu würde gehören, die Schönheit des Augenblicks wahrzunehmen, ohne betrübt zu werden, dass sie vergeht. Warum sollte uns auch das Schöne in der Natur und im Leben weniger erfreuen, nur weil es vergänglich ist? Das Vergehen bringt keine Entwertung mit sich, eher eine Wertsteigerung.
Spielerisch mit der Vergänglichkeit umzugehen, bedeutet, zu Gott aufzuschauen und zu sprechen: Danke für alles, was du mir auf Zeit gegeben hast. Vor dir wird jeder Augenblick zur Ewigkeit. Lass deine Gaben mir zur Freude werden. Verwende sie, wie du willst, denn dein bin ich und dein ist alle Schönheit.
(1) GW V,67 in: Marbacher Magazin 95/2001, S.66