Evang. Kirchengemeinde Solingen-Dorp
Was brauchen wir jetzt?
mit Pfarrer Joachim Römelt aus der Dorper Kirche in Solingen
12.01.2025 10:05
Der Evangelische Rundfunkgottesdienst - live im Deutschlandfunk um 10.05 Uhr
 
Das neue Jahr 2025 ist noch jung. Aber es wird wie 2024 ein Jahr sein, das von vielen Krisen und Herausforderungen geprägt ist. Was brauchen wir persönlich und was braucht unsere Gesellschaft in dieser Zeit am meisten?
 
Pfarrer Joachim Römelt plädiert in seiner Predigt für ein anderes Miteinander, für mehr echte Begegnungen. Nicht nur mit denen, die uns sowieso schon nahestehen, sondern auch mit Menschen, die ganz anders denken und leben als wir selbst. Aus der Kirchengemeinde in Solingen-Dorp berichtet Gabriele Bergfeld vom "Café Herzenswärme" und "Blind-Date-Tischgemeinschaften", wo so etwas beginnt: zusammenkommen an einem Tisch, essen und trinken, sich zuhören und achten, diskutieren und Lösungen suchen.  

Kirchenmusikdirektorin Stephanie Schlüter gestaltet den Gottesdienst musikalisch mit der Dorper Kantorei, dem Dorper Jugendchor und Band. 
 
Lieder des Gottesdienstes:
1. EG 66: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude
2. EG 552: Licht, das in die Welt gekommen

 

Predigt nachlesen:

I

Das neue Jahr ist gerade mal zwölf Tage alt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich stelle mir im Moment eine Frage noch etwas häufiger als sonst: Was brauchen wir? Gerade jetzt in dieser Zeit? Was brauchen Sie, was brauche ich persönlich? Und was braucht unsere Gesellschaft zurzeit besonders? Wir haben gesellschaftlich ein heftiges Jahr hinter uns. Den Bruch der Regierungskoalition. Mit all seiner Vorgeschichte und seinen Begleitumständen. Bei uns hier in Solingen die schreckliche Messerattacke auf dem Stadtfest Ende August. Das hat nicht nur die Menschen in unserer Stadt tief erschrocken und verwundet. Der Anschlag in Magdeburg im Advent. Und dann die lauten und oft zornigen Debatten nach solchen Ereignissen. Überhaupt der Ton, in dem in den letzten Jahren zunehmend geredet wird. Im wirklichen Leben und in den sozialen Medien. Und auf der anderen Seite die vielen Kundgebungen für Demokratie und Mitmenschlichkeit Anfang des vergangenen Jahres. Zehntausende, die sich da Woche für Woche landauf, landab gezeigt und zu Wort gemeldet haben. Und vieles andere noch, was die Frage aufwirft: Was brauchen wir jetzt? Und was können wir als Christenmenschen dazu beitragen? Und: welchen biblischen Proviant können wir da mitnehmen, um uns zu ernähren und zu stärken?

II

Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel erzählt in ihrem Buch "Zusammen" folgende Geschichte: Sie wird mit ihrem Partner von einer Bekannten zum Essen eingeladen. Als die beiden bei ihren Gastgebern ankommen, merken sie schnell, dass es diesmal ein besonderer Abend wird. Die anderen Gäste sind alles Unbekannte. Es ist nicht wie sonst eine vertraute, sondern eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Es gibt hervorragendes mexikanisches Essen in mehreren Gängen. Und es gibt von den Gastgebern zwei Vorgaben für den Abend. Erstens: keine Handys am Tisch. Zweitens: die Gäste sollen ein gemeinsames Gespräch führen zum Thema "eine bessere Zukunft". Das kommt zwischen den äußerst genussvollen Gängen auch zustande. Natürlich werden ganz viele unterschiedliche Dinge genannt, die die Zukunft besser machen könnten. Aber ein Thema, eine Frage zieht sich immer wieder durch: Wie finden wir zu einem besseren Miteinander? Wir finden wir zu mehr echter Begegnung? Nicht nur mit denen, die uns sowieso schon nahestehen? Sondern auch mit Menschen, die ganz anders denken und leben als wir?

Diese Geschichte begleitet mich seit Wochen. Einmal, weil ich das Gefühl habe: Ja, wahrscheinlich ist das der Kern ganz vieler Probleme. Dass "wir" einander zu wenig wirklich begegnen – jetzt mal sehr verallgemeinert gesagt. Dass viele von uns nur selten Menschen begegnen, die ganz anders sind. Ich merke das bei mir selber: Die Versuchung, mich mit Menschen zu umgeben, die so ähnlich denken und ticken wie ich selbst. Man bleibt dann schnell in seiner eigenen Blase und bestätigt sich gegenseitig. Und schüttelt schnell den Kopf über andere, die manches ganz anders sehen. Und steckt den oder die andere schnell in eine Schublade: "Ah, schau mal: so eine oder so einer ist das also!" Besonders schnell passiert das natürlich im Netz.

Die Journalistin Dunja Hayali hat vor kurzem den "Ehrenpreis der Stadt Solingen für das geschliffene Wort" bekommen. Im Interview sagt sie, dass "wir gar nicht mehr über Inhalte und Ursachen diskutieren, sondern nur noch darüber, wer eigentlich dümmer ist" (Solinger Tageblatt vom 1.12.2024). Das trifft es sehr gut. Hayali wünscht sich im Interview wieder mehr "Streitfähigkeit". Diskussionen, in denen hart, aber fair um Lösungen gestritten wird. In denen man einander zuhört. In denen es nicht ums Gewinnen geht. Oder um das Fertigmachen von Gegner:innen. Sondern um Lösungen. Um eine bessere Zukunft. Und wie dringend würden wir die brauchen – in so vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Das ist etwas, das ich mir zum Beispiel für den Wahlkampf wünsche: Dass es da nicht um Parolen und das Bekämpfen und Schlechtmachen von politischen Gegnern geht, sondern um Inhalte und echte Lösungsvorschläge für die vielen Probleme, die jetzt angegangen werden müssen.

Und dann denke ich wieder an das mexikanische Essen und das Tischgespräch, von dem die Journalistin Wurmb-Seibel erzählt. Menschen, die sich nicht kennen, miteinander im Gespräch. Verschiedene Meinungen. Unterschiedliche Ideen. Alle können ausreden. Jeder hört zu. Es gibt Widerspruch, aber keine persönliche Beleidigung. Alle fühlen sich grundsätzlich geachtet und gehört. Und entdecken am Ende, dass sie sich bei allen Unterschieden in manchem doch näher sind als gedacht. Zugegeben: nicht alle Positionen unserer Gesellschaft werden an diesem Tisch vertreten gewesen sein. Und trotzdem ist dieser Tisch für mich ein Bild geworden für das, was wir in unserer Gesellschaft brauchen.

Der Tisch ist ja gerade für Christenmenschen ein vertrautes Bild. Wie oft hat Jesus an ganz unterschiedlichen Tischen gesessen. Mit ganz unterschiedlichen Menschen.

III

Wie oft hat Jesus an ganz unterschiedlichen Tischen gesessen. Mit ganz unterschiedlichen Menschen. Die mit ihren ganz verschiedenen Lebensgeschichten und Haltungen seine Nähe gesucht haben. Weil sie sich bei ihm bejaht, angenommen und gesehen gefühlt haben. Und damit von Gott gesehen und anerkannt. Bei Zachäus, dem Steuereintreiber, mit dem sonst niemand etwas zu tun haben wollte; bei den Gelehrten, mit denen Jesus diskutiert, als plötzlich eine "Sünderin" das Haus betritt; bei der Speisung der 5000, als sich erst niemand zu teilen traut.

In unseren Kirchen stehen Abendmahlstische, an die wir regelmäßig einladen und eingeladen werden. So unterschiedlich, wie wir sind. Und so fröhlich oder belastet, wie wir gerade sind. Das ist etwas Wunderbares. Die Frage ist nur: fühlen sich Menschen heute genauso an diese Tische eingeladen wie damals bei Jesus? Oder verbreiten auch wir in unseren Kirchen und Gemeinden einen bestimmten Stallgeruch, der manche Menschen anzieht – und viele andere eben gerade nicht? Bei aller Offenheit, die wir uns ehrlich wünschen: auch in unseren Gemeinden bilden wir oft "Blasen", die ähnliche Menschen anziehen. Und anderen das Gefühl geben, nicht wirklich dazuzugehören. Da kommen montags Familien oder alleinstehende ältere Menschen zur Lebensmittelausgabe in unserer Gemeinde und freuen sich, eine große Tasche mit Lebensmitteln mitnehmen zu können. Bleiben sie auch gerne auf einen Kaffee? Fühlen sie sich auch eingeladen, wenn sonntags Abendmahl gefeiert wird? Es ist wichtig, das erst einmal wahrzunehmen. Und anzuerkennen, dass unsere Tische nicht so offen und einladend sind, wie wir möchten und oft auch denken. Wir sind als Christinnen und Christen da oft selber Teil dieser Welt mit ihren ungeschriebenen Regeln und Gewohnheiten. Was auch kein Wunder ist. Es ist wichtig, das ehrlich zu sehen. Und dann auf die freundliche Ermahnung des Apostels Paulus in Römer 12 zu hören: "Stellt euch nicht dieser Welt gleich, macht nicht einfach alles mit, was gerade läuft, sondern lasst euch verändern! Schaut noch einmal neu hin, lernt neu zu denken, damit ihr erkennt, was Gott gerade jetzt in dieser Zeit von euch will!"

Ich habe den Eindruck, dass Paulus auch mit seinen folgenden Gedanken erstaunlich aktuell ist. Weiter heißt es in Römer 12: "Eure Liebe soll echt und ohne Hintergedanken sein. Und von Herzen kommen. … Lasst die Menschen spüren, dass ihr sie wirklich achtet und ehrt. … Seht ihre Nöte und nehmt sie ernst. Seid offen und gastfreundlich. Wenn ihr Menschen als fremd oder sogar feindlich erlebt, dann haut nicht auf sie drauf. Sondern segnet sie. Ja, ihr habt richtig gehört: segnet gerade die Menschen, mit denen ihr es echt schwer habt. Und meint nicht, ihr müsstet in alldem die ganz große Lösung finden. Sondern fängt klein an. Und würdigt die kleinen Schritte!" Zugegeben, das ist eine sehr persönliche Übersetzung der Worte des Paulus. Aber ich glaube, dass genau das jetzt dran sein könnte: Dass wir Raum schaffen für Gespräche und echte Begegnung. Mit den unterschiedlichsten Menschen. In unseren Kirchengemeinden. Aber genauso im persönlichen Leben. Da, wo wir gerade sind. Räume schaffen, in denen Menschen wieder miteinander reden. Durchaus klar und deutlich, aber respektvoll. Räume, in denen Menschen spüren: ich teile deine Meinung nicht immer, vielleicht finde ich sie sogar schwierig oder gefährlich. Aber sich als Mensch achte und respektiere ich. Wie könnte das konkret aussehen?

IV

Wie könnte das konkret aussehen? Es gibt da viele Wege und Möglichkeiten. Von zwei Ideen möchten wir erzählen:

Seit November 2022 öffnen die Solinger Stadtkirchengemeinde und die Gemeinde Dorp gemeinsam jeden Freitag das Café Herzenswärme in einem Raum der Stadtkirche. Was als Wärmewinterangebot gedacht war, hat inzwischen einen festen Platz in unserer Stadt. Es gibt tatsächlich mehr als einen vegetarischen Eintopf, Brot, Obst, Kaffee und Kuchen. Das kostenlose Essensangebot ist willkommen. Aber noch viel mehr ist es die Erfahrung, als Mensch willkommen zu sein; Freundlichkeit und Gemeinschaft zu erleben; sicher zu sein, einen Platz am Tisch zu finden. Und es ist ein Geben und Nehmen. Inzwischen spielen schon mehrere Gäste begeistert auf dem Klavier und sorgen so zusätzlich für sehr gute Stimmung. Das Team aus einigen Haupt- und vielen Ehrenamtlichen macht die Arbeit zuverlässig und sehr gerne. Denn auch wir fühlen uns beschenkt. Die Offenheit füreinander, der wertschätzende Umgang miteinander, die Dankbarkeit tun allen Beteiligten gut.

Ein zweites Beispiel: Sie kennen sicher die öffentlich aufgehängten Zettel, mit denen Menschen insbesondere in Unistädten nach einem Zimmer suchen. Ähnliche Zettel, aufgehängt in unserer Dorper Kirche, sind die Einladungen zu Blind-Date-Tischgemeinschaften. Jeder Abrisszettel steht für einen Stuhl am Esstisch. Auf dem Abrisszettelchen stehen die wichtigen Infos: Wann, wo und bei wem darf ich mich zum Essen einfinden? Wen rufe ich an, um meine Telefonnummer zu hinterlassen, damit im Notfall umorganisiert werden kann.

Mal gibt es ein Frühstück für drei Frühaufsteher, mal ein Abendessen mit Pellkartoffeln und Fisch zum kühlen Bier. Kreative und alltägliche Einladungen sind denkbar.

Und dann wird es spannend, welche bunte Tischgemeinschaft sich zusammenfindet. Menschen, die sich noch nie gesprochen haben; Menschen, die sich flüchtig kennen; Menschen, die neugierig auf die Gastgeber sind.

Uns machen diese Einladungen sehr viel Spaß!

Einen Tipp möchte ich noch hinzufügen: Überlegen Sie sich einen Gedanken, über den Sie sprechen möchten. Oder stellen Sie die Frage, wer eigentlich mutiger ist beim Blind-Date: die Gastgeber oder die Gäste? Wir hatten dazu ein angeregtes Gespräch!

V

Viele andere Möglichkeiten sind denkbar. Gemeinsames Singen, öffentliches "Rudelsingen" kann Menschen verbinden – gerade wenn die Liedpalette breit ist und viele Geschmäcker trifft. Wichtig ist dabei: es müssen nicht immer die großen, aufwändigen Aktionen sein. Zu denen fehlt uns ja oft die Kraft und die Zeit. Paulus würdigt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom gerade die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge, die so wichtig werden können. Und ermutigt uns: "Haltet euch an das Kleine!" Schon kurze Begegnungen und Gespräche können so kostbar werden: das Lob für den Mann oder die Frau an der Supermarktkasse. Unbekannte Menschen in der Stadt freundlich zu grüßen und in Gedanken zu segnen. Über die Arbeit eines Menschen zu staunen, der etwas ganz anderes tut und kann als man selbst. Und das auch mal zu sagen. Das kurze Gespräch mit einem ganz unbekannten Menschen an der Bushaltestelle, wenn der Bus wieder später kommt. Die Autorin Ronja von Wurmb-Seibel erzählt in ihrem Buch von einem Marktplatz, auf den die Stadt einfach ein paar Stühle gestellt hat. Mit der Einladung zum Gespräch. Die Leute wissen: wenn dort jemand sitzt, kann man sich dazusetzen und unterhalten. In italienischen Dörfern ist das ganz normal. Und auch bei uns traf man sich früher an den kleinen Treppen vor den Türen der Häuser, am Dürpel, wie sie auf Solinger Platt heißen. Das klingt alles klein und nicht besonders aufregend. Aber es führt dazu, dass Menschen sich begegnen. Sich gesehen und gehört fühlen. Vielleicht für Momente aus ihrer Einsamkeit herauskommen. Das löst sicher nicht die vielen politischen Probleme, die angegangen werden müssen. Aber es wärmt das gesellschaftliche Klima. Und setzt der Isolation und dem zornigen Ton vieler Debatten etwas entgegen.

Wir dürfen da das Unsere tun – und das Weitere in Gottes Hände legen. Jesus erzählt einmal von einem Bauern, der seinen Acker besät. Und dann nach Hause geht, Feierabend macht und sich schlafen legt. Seine Sache ist das Säen. Das Wachsen liegt in anderen, in Gottes Händen. Dieses Vertrauen kann uns guttun: dass Gott in dieser Welt am Werk ist. Auch wenn wir das oft nicht bemerken. Dass er Dinge wachsen lässt, die wir oft lange nicht sehen. Und dass er da mit uns zusammenarbeiten will. Das Unsere tun und alles Weitere in Gottes Hände legen, das möchte ich in diesem Jahr noch einmal ausprobieren. Und nach Orten Ausschau halten, an denen das bereits geschieht. Ronja von Wurmb-Seibel erzählt von einer Bibliothekarin, die in ihrer Bibliothek einen Gaming-Room eingerichtet hat. Zuerst hat kaum jemand diesen Raum genutzt. Das ist oft so, dass neue Dinge erstmal länger nicht laufen. Inzwischen kommen aber nicht nur Jugendliche, um mit dem Spiel "Minecraft" ihre Stadt selber zu gestalten. Sondern auch Erwachsene bis ins Alter, um sich von den Jugendlichen am PC fortbilden zu lassen. Aus dem Gaming-Room ist ein generationsübergreifender Treffpunkt geworden, der allen guttut. Die Bibliothekarin sagt: "Meine Erfahrung ist, wenn wir erstmal anfangen und losgehen, kommen mit der Zeit schon die richtigen Leute zusammen." Mit Jesus gesprochen: Wenn wir erstmal säen, vielleicht klein und bescheiden, wird Gott etwas wachsen lassen. Wir brauchen nur den Mut, klein anzufangen. Und Geduld. Und das Vertrauen, dass Gott da ist und Dinge wachsen lässt. Klar, auch Jesus weiß und redet davon, dass nicht jede Saat aufgeht. Aber manche eben doch. Und dann richtig.

Das wird uns guttun für das neue Jahr: viele Menschen, die irgendwie auf andere zugehen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Und im Vertrauen darauf, dass Gott uns auf diesem Weg zur Seite steht. Immer. Und überall.

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Dlf Gottesdienst