I
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen, Amen.
„In der Musik ist Gottes Gnade gegenwärtig.“ Diesen Leitspruch schrieb sich Johann Sebastian Bach an den Rand seiner Bibel. Wohlgemerkt, er schrieb nicht: „bei einer Andacht“ oder „bei einem Gebet“ oder „bei einer die Andacht und das Gebet unterstützenden Musik“. Sondern: Die Musik allein reicht, um Gottes Gegenwart zu spüren. Die Musik ist bei Bach Klangrede, sie predigt – mit Worten, aber auch ganz ohne. Als „fünfter Evangelist“ wird Bach darum immer wieder bezeichnet. Weil er die Musik zum Medium machte, in dem selbst abstrakte Glaubensinhalte sinnlich erfahrbar werden. So wie wir das an diesem Morgen erleben werden, wenn die Kantate erklingt, die Bach für den 13. Sonntag nach Trinitatis komponierte.
Dabei ist klar: Wenn Bach schreibt, dass für ihn Gottes Gnade in der Musik gegenwärtig sei, dann als Ergebnis intensivsten Musikstudiums. Als vielseitig gebildeter Mann, der von Kindesbeinen an die Bibel und kirchliche Traditionen kannte. Der in der Theologie seiner Zeit bestens bewandert war. Er schreibt es als einer, der also genau wusste, worüber er spricht, und eben darum so eine kühne Aussage treffen konnte:
„In der Musik ist Gottes Gnade gegenwärtig“. Das sagt ein hochbegabter Kirchenmusiker durchdrungen von Martin Luthers theologischen Erkenntnissen und Glauben.
Die Grundlage für Bachs Kantate, die wir heute hören, war der Text eines gleichnamigen Kirchenliedes und eine anonyme Liedmelodie. Im Zentrum der Kantate steht Christus. Auf ihn sollen wir unsere Herzen und Sinne richten. Auf den von Gott zum Retter erkorenen Menschen und Gottessohn. Auf ihn, in dem aller Halt und Trost zu finden seien, die es zum Leben braucht:
„Allein zu dir, Herr Jesu Christ,
Mein Hoffnung steht auf Erden;
Ich weiß, dass du mein Tröster bist,
Kein Trost mag mir sonst werden.
Von Anbeginn ist nichts erkorn,
Auf Erden war kein Mensch geborn,
Der mir aus Nöten helfen kann.
Ich ruf dich an,
Zu dem ich mein Vertrauen hab.“
Meine Erfahrung ist: Viele Menschen können diesen Text mit Inbrunst singen und ergriffen hören. Damals wie heute. Gesprochen allein aber sind diese Worte nur schwer zu glauben.
Es ist die Musik von Bach, die macht, dass das Christusbekenntnis so viel Lebensmut und Gottvertrauen verströmt. Von der sich die Seele und alle Sinne aufwecken lassen können. Und ermuntert werden, diese innige Beziehung und Liebe auch in uns zu spüren.
Im Hebräischen, in der die Psalmen, die Lieder der Bibel, gedichtet sind, bezeichnet ein und dasselbe Wort zugleich Seele und Kehle: „näfäsch“.
Eine tiefe Weisheit, die sich in dieser Sprache verdichtet hat. Was aus voller Kehle kommt, kommt auch aus ganzer Seele. An den Stimmen können wir meist ziemlich genau erkennen, wie den Menschen, die sie erheben, zumute ist. Ob weit oder eng, froh oder ängstlich.
Wenn ich nun den Choral am Anfang der Kantate höre, fühle ich mich durch die Musik hineingenommen in diesen starken Glauben, in die Liebe, in diese starke Beziehung zu Christus, die auch mir eine Hilfe ist.
Neurologen sagen, dass wir mit der rechten Gehirnhälfte singen, die für Gefühl, Seele und Intuition zuständig ist, während die linke Gehirnhälfte mehr das Denken übernimmt.
Dieses „geteilte“ Gehirn lässt sich ganz einfach demonstrieren: Versuchen Sie einmal, einen Text, den Sie singend auswendig können, zu sprechen. Sie merken schnell, das geht zunächst gar nicht, oder nur mit einer aufwändigen gedanklichen Übersetzung. Dafür gelangen Melodien – und damit das Singen – in tiefere Schichten der Erinnerung als das Denken. Menschen, die dement sind und fast alles vergessen haben, summen dennoch die Lieder, die ihnen von früher vertraut sind, mit.
Das hat auch Martin Luther gewusst, der in jungen Jahren sein Brot mit einer Laute umherziehend als Bänkelsänger verdiente. Später schrieb er Lieder für den Gottesdienst und war überzeugt:
„Denn was findest du wirksamer als die Musik, die Traurigen zu trösten, die Fröhlichen zu erschrecken, die Verzweifelnden zu ermutigen, die Überheblichen zu demütigen, die Leidenschaftlichen zu beschwichtigen?“
Musik und Lieder sind Verkündigung, das hat Johann Sebastian Bach von Martin Luther gelernt. Ein Gottesdienst ohne Chor, Gesang und Musik war für ihn nicht vorstellbar.
Doch hören wir, wie es in der Kantate weitergeht. Was es mit dem lyrischen Ich macht, das gleich seine Stimme erhebt, um sein Vertrauen auf Christus zu setzen.
II
Wer liebt, genauer: Wer sich geliebt und in der Liebe zutiefst erkannt und gemeint fühlt, der weiß meist auch, wie uns diese Zuwendung zugleich erschrecken kann. Wie mir die Erfahrung solcher Liebe besonders intensiv vor Augen führt, um welcher Unzulänglichkeiten willen ich meine, sie nicht zu verdienen. Worin ich immer wieder auch scheitere. Wo mir Charakterstärke und Willenskraft abhandenkommen können, um die zu sein, die ich für den mich so Liebenden doch eigentlich sein möchte. So wie das lyrische Ich in der Kantate ergriffen von der Liebe Christi das Gespräch mit Gott sucht:
„Mein Gott und Richter, willst du mich aus dem Gesetze fragen,
So kann ich nicht,
Weil mein Gewissen widerspricht,
Auf tausend eines sagen.
An Seelenkräften arm und an der Liebe bloß,
Und meine Sünd ist schwer und übergroß“
Die barocke Sprache der Kantatentexte mag in unseren Ohren heute geschwollen klingen. Auch ist uns vielleicht ein solches Zwiegespräch mit Gott fremd.
Doch interessant ist, was darin zum Ausdruck kommt. Hier spricht nicht Gott einem Menschen ins Gewissen, sondern ein Mensch spricht von sich aus an, was ihm auf der Seele lastet. Das Gefühl, sich schuldig gemacht zu haben. Nicht einlösen zu können, was man doch eigentlich versprochen hatte zu tun. Menschen, die sich selbst im Tun und Lassen so unzuverlässig und wankelmütig erleben, können die Liebe, die ihnen entgegengebracht wird, oft gar nicht glauben.
Dabei erfahren wir in der Kantate nicht, was die Ursache für die Schuldgefühle ist, von denen in den Arien gesungen wird. Und ob wir, wenn wir die Geschichte dazu kennten, der Selbstdiagnose zustimmen würden oder nicht.
Zugleich ist die Musik, die Johann Sebastian Bach in der Kantate für diese Bedrängnis und auch den Zwiespalt fand, bewegend: Er belässt es nicht bei dem, was schmerzt und worin dieser Mensch sich als fehlbar erkennt. Weil selbst der, der sich hier selbst der Schuld bezichtigt, im tiefsten Innern seines Herzens weiß: Es ist nicht Gottes Blick auf ihn, noch Urteil, die aus seinen Worten sprechen. Dass er in seiner Seelennot in keinem Moment allein ist. Weil er in Christus seinen Fürsprecher erkennt. Weil sich ihm Christus zur Seite stellt und weiß, wie seine Sicht auf die Dinge lautet:
Wie furchtsam wankten meine Schritte,
Doch Jesus hört auf meine Bitte
Und zeigt mich seinem Vater an.
Mich drückten Sündenlasten nieder,
Doch hilft mir Jesu Trostwort wieder,
Dass er für mich genug getan.
„Doch, wenn ich um nichts mehr
Als Jesu Beistand bete,
So wird mich kein Gewissensstreit
Der Zuversicht berauben;
Gib mir nur aus Barmherzigkeit
Den wahren Christenglauben!“
Diese Zuversicht lässt sich singend leichter fühlen, als wenn sie nur gesprochen ist. Für mich verströmt die Musik von Johann Sebastian Bach ein Vertrauen und Zutrauen, die sicher manche kennen, die schon einmal von ähnlicher Liebe ergriffen worden sind.
Dass ich kraft solcher großen und verlässlichen Liebe, die mir entgegengebracht wird, umso konturierter erkenne, worin ich mehr als mäßig bin. Worin ich den Ansprüchen anderer wie eigener kaum genüge. Und zugleich genauso intensiv fühlen kann, was der Blick dessen, der mich liebt, auch zutage treten lässt: mich im Innersten angenommen und geliebt zu wissen. So wie in der Kantate der so Singende in Christus den erkennt, der ihm dieses Vertrauen nährt und ihm aus diesem Strom der Liebe zu leben und zu handeln hilft.
„Kantate von der Liebe“ hat ein Musikwissenschaftler diese Kantate betitelt. Weil sie hörbar und fühlbar macht, wozu die Liebe Christi ermächtigt, tröstet und stärkt. Davon weiß der Schlusschoral ein Lied zu singen. So hören wir, genießen und spüren erneut, wie Gottes Gnade in der Musik gegenwärtig ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.