Steh auf, nimm das Kind und flieh...

Foto: Manfred Lipienski

Foto: Manfred Lipienski

Diese Krippe wurde von Krippenbaumeister Manfred Lipienski und seinem Team mit Krippenfiguren aus dem ehemaligen Bochumer Redemptoristenkloster für die Ausstellung "Bochumer Krippentage 2015" des Bochumer Krippenvereins entworfen und gebaut.
Infos: www.bochumer-krippenverein.de

Steh auf, nimm das Kind und flieh...
Spurensuche auf der "Flucht nach Ägypten"
27.12.2015 - 08:35
26.06.2015
Pfarrer Günter Ruddat

So eine Weihnachtskrippe habe ich noch nie gesehen:

Maria sitzt mit dem Jesuskind in einem kaum hochseetauglichen hölzernen Kahn, und Josef rudert und rudert, auf dem Weg ins Ungewisse. So hat ein Baumeister die Krippe in Lebensgröße aktualisiert (1) – für die Krippenausstellung in meiner Nachbarschaft.

 

Diese Krippe holt mich hinein – in die Geschichte von der Flucht der heiligen Familie, so wie sie die Bibel erzählt. Und sie holt mich hinein in diesen hölzernen Kahn – mit meinen eigenen Erinnerungen an Flucht. Und mit den Fluchtgeschichten, wie sie meine neuen Nachbarn erzählen.

 

Achmed zum Beispiel und seine hochschwangere Frau Rosa aus Syrien. Auf dem Schulhof habe ich die beiden kennen gelernt, bei einem Willkommensfest des Netzwerks Flüchtlingshilfe.

 

Mitten in meinem Dorf ist die alte evangelische Schule nach ihrer Schließung zu neuem Leben erwacht. Jetzt wohnen hier siebzig Flüchtlinge, vor allem aus dem Nahen Osten. Und zu meinen neuen Nachbarn gehören auch Achmed und Rosa. Sie haben einen kleinen Raum für sich, andere wohnen in einem ehemaligen Klassenzimmer. Mit Bauzäunen ist es so unterteilt, dass drei kleine Räume entstanden sind, die sich jeweils drei bis vier Menschen teilen.

 

In der alten Schule zu sein – ist für mich ein Déjà-vu-Erlebnis: Auf einmal bin ich wieder ein kleiner Junge von 6 Jahren, der mit seinen Eltern als Flüchtlingskind ins Ruhrgebiet gekommen ist. Wir wohnen zur Untermiete in einer 2 1/2 Zimmer-Wohnung, gemeinsam mit den Vermietern, jede Familie bewohnt einen Raum.Wir teilen uns Küche und Klo.

 

Mein Vater renoviert notdürftig eine alte Schrebergartenlaube in der Nachbarschaft, sie wird mit ihrem Bollerofen zum warmen Wohn- und Spielzimmer im Winter. Hier kann ich auch mit den Kindern aus der Turnhalle gegenüber spielen, die dort mit vielen anderen Familien untergebracht sind. In Räumen mit Feldbetten, durch Sichtschutzwände abgeteilt.

 

 

Morgen, drei Tage nach dem Weihnachtsfest, erinnert die kirchliche Tradition an den „Tag der unschuldigen Kinder“. Was für eine Abfolge der biblischen Erzählungen: Gerade noch Heiliger Abend, das weihnachtliche Bild von der Geburt im Stall, sanft beleuchtet vom Licht der Kerzen. Wenig später flieht die heilige Familie bei Nacht und Nebel – verfolgt und vom Tode bedroht. Jede weihnachtliche Gemütlichkeit ist abrupt verflogen. Maria, Josef und das Jesuskind sind in der rauen Wirklichkeit angekommen.

 

In der Bibel hat die raue Wirklichkeit einen Namen: Herodes. Der Herrscher Herodes sieht einen kleinen Menschen, Jesus, als gefährliche Bedrohung. Ihn will er beseitigen, damit die Machtverhältnisse nicht gestört oder auch nur in Frage gestellt werden.

 

Das Matthäus-Evangelium erzählt davon:

„(...) Der Engel des Herrn erschien dem Josef im Traum und sprach:

Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten

und bleib dort, bis ich dir's sage;

denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht

und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes (...).“

(Mt 2,13-15. Luther-Übersetzung 1984)

 

Wie wird es Maria gegangen sein, als sie Josef, diesen Träumer, sagen hört: „Pack alles zusammen, wir müssen fliehen!“ Voller Angst und Zweifel wird Maria sein: „Das schaffe ich nicht. Das Kind ist doch gerade erst geboren. Und dann so eine lange beschwerliche Reise, in ein fremdes Land, wo wir niemanden kennen, wo uns niemand helfen wird.“

 

Josef, Marias Mann, der in der Bibel kein Wort sagt und eigentlich nur am Rande vorkommt, Josef handelt. Er nimmt sein Leben in die Hand und folgt – wie immer – den Worten der Engel in seinen Träumen und zieht los. Er verlässt sich auf die Worte des Engels, um seine kleine Familie zu schützen. Mit großem Hut und Stab in der Hand wird Josef auf Bildern dargestellt. Er führt den müden Esel, auf dem Maria sitzt, das Kind ist warm in Marias Mantel eingehüllt. Sie birgt es sicher in den Armen. Auf manchen Bildern sieht es sogar so aus, als wenn das Kind auf dem Schoß der Maria thront. Immer wieder erinnern Künstler am Beispiel der heiligen Familie daran: Menschen sind auf der Flucht, auch in unserer Zeit.

 

Josef, Maria und das Kind. Stellvertretend für Tausende, Tag für Tag, in diesen Wochen und Monaten, ein Mann, eine Frau, ein Kind. Gezeichnet von Angst und Erschöpfung, sie suchen verzweifelt ihren Weg, auf der Flucht vor Mord und Totschlag, vor Bomben und Krieg, auf der Flucht vor Hunger und Heimatlosigkeit, vor Armut und Verfolgung. Ihr Weg ist kein Idyll, sondern in jeder Hinsicht lebensgefährlich.

 

Maria, Josef und das Jesuskind waren nicht die ersten und auch nicht die letzten, die fliehen mussten, damals, als die Machtgier des Herodes sie in die Fremde trieb.

 

 

In Ägypten wird am Ufer des Nils eine Höhle gezeigt, in der Maria und Josef mit dem Jesuskind Unterschlupf fanden.

 

Die märchenhafte Tradition verbindet diesen Ort zugleich mit der Stelle, wo Mose in biblischer Vorzeit dem Kindermord des Pharaos entkommt.

In einem Binsenkorb soll er dort aus dem Schilf am Ufer des Nils geborgen worden sein. Wer den biblischen Erzählungen folgt, erfährt: Dieses Kind, Mose, bekommt eine Chance, neues Leben bahnt sich an. Und Gott ist es, der mit Mose später die Wirklichkeit verändern und verwandeln wird. Mit Mose bekommt ein ganzes Volk von Unterdrückten eine Chance, der Auszug aus der Sklaverei nimmt mit dem Kind Mose menschenfreundliche Gestalt an.

 

Von Alexandria bis Assiut gibt es in Ägypten viele Geschichten und Legenden. Sie erinnern auf wundervolle Weise, wohin es die drei Flüchtlinge aus Bethlehem fast vier Jahre lang verschlagen haben soll. Da wiederholen sich die Erfahrungen aus Bethlehem – von Ablehnung und fehlendem Raum in der Herberge. Andere Berichte malen verschwenderisch aus, was da alles an umstürzenden Ereignissen geschehen sein soll: Schon der kleine Jesus heilt und weckt Tote auf. Er zähmt sagenumwobene wilde Tiere und Frieden wird, wie der Prophet Jesaja geweissagt hatte (Jes 11,6). Die Leben spendenden Bäume am Ufer des Nils sollen sich verneigt haben vor der Heiligen Familie, als sie mit dem Boot nilaufwärts segelten.

 

Es ist so, als sollte das ganze Land nicht einfach nur die Flüchtlinge aufnehmen, sondern sich in der Begegnung mit ihnen selbst verändern und verwandeln.

 

Bis heute ist die koptische, die ägyptische Christenheit von dieser Tradition geprägt. Die Aufnahme der heiligen Familie wird dankbar erinnert: Jesus findet mit seinen Eltern in ihrer ägyptischen Heimat ein Zuhause. Noch immer kennen und besuchen koptische Christen die Orte, in denen sich ihrer Überlieferung nach die Drei aufgehalten haben. Bis heute heilige Orte.

 

 

… Als Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen war,

wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten

und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren,

nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte…

(Mt 2,16. Luther-Übersetzung 1984)

 

Die brutale und menschenverachtende Gewalt des Herodes erreicht das Jesuskind nicht. Maria und Josef konnten mit Jesus fliehen. Das eine Kind ist gerettet, aber Herodes hinterlässt eine Spur der Gewalt. Viele andere Kinder fallen der Gewalt zum Opfer. Noch hat Herodes die Macht und setzt sie skrupellos ein. Die kirchliche Tradition erinnert daran mit dem ‚Tag der unschuldigen Kinder’.

 

Historisch ist umstritten, ob und wie der Kindermord in Bethlehem stattgefunden hat. Zuzutrauen ist der Kindermord dem sprichwörtlich grausamen Herodes, der nicht davor zurückschreckte, selbst sein eigen Fleisch und Blut zu töten, seine ältesten Söhne hinzurichten, damit sie ihm nicht gefährlich würden.

 

Solch despotischer Menschenschlag hat immer noch Konjunktur. Nicht nur in der Geschichte Israels und Deutschlands reihen sich solche blutigen Ereignisse aneinander, immer wieder feiern sie grausige Urständ. Und immer wieder treiben sie Menschen in die Flucht. Bei Herodes ist es erst der Tod, der dem Mörder auf dem Königsthron eine Grenze setzt.

 

Als aber Herodes gestorben war,

siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach:

Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel;

sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.

Da stand Josef auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich

und kam in das Land Israel…

und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth.

(Mt 2, 19-21.23a. Luther Übersetzung 1984)

 

Die Bibel erzählt das glückliche Ende einer Flucht, die Heimkehr für Maria und Josef mit dem Kind, zwar nicht nach Bethlehem, sondern nach Nazareth. Die Drei haben überlebt und ihnen wird Mut gemacht, die Fremde, das Exil hinter sich zu lassen und heimzukehren. Und wieder ziehen sie los – nur im Vertrauen auf das Wort des Engels.

 

Das liest sich wie ein Traum, die Welt scheint wieder in Ordnung, für die Zukunft zu Recht gerückt. Was wäre das für eine Welt, in der alle ein Zuhause haben, ein Dach über dem Kopf; Wasser zum Leben, satt zu essen und Arbeit in Frieden.

 

Die Geschichte Jesu geht weiter, nicht nur in der Bibel. Da zeigt sich ein anderer „König der Juden“.

 

Der Schweizer Schriftsteller und Pfarrer, Kurt Marti, hat das in seinem Gedicht Flucht nach Ägypten (2) auf den Punkt gebracht:

 

nicht

ägypten

ist

fluchtpunkt

der flucht

 

das kind

wird gerettet

für härtere tage

 

fluchtpunkt

der flucht

ist

das kreuz

 

Das Kreuz zeigt den Weg, auch durch härtere Tage, die kommen… nicht mit Macht und Gewalt, sondern mit Ohnmacht und Liebe. Das Zeichen des Kreuzes gibt Orientierung, wie es mit dem Leben weitergeht, durch den Tod hindurch, gerettet.

 

Dieses Leben kann heute auch so aussehen wie bei Rosa und Achmed, in der Alten Schule bei uns im Dorf. Rosa hat ein Kind geboren, Achmed und Rosa haben es Adam genannt: Wie sie sagen: ein erstes Kind, ganz wortwörtlich: ein Mensch, ein Lebenszeichen. Die Drei aus Syrien sind kurz vor Weihnachten in eine Wohnung gezogen, in ein eigenes neues Zuhause, die Leute vom Netzwerk haben ihnen nicht nur beim Umzug geholfen, sondern viele Menschen aus dem Dorf haben Möbel und Hausrat zusammengetragen. Zwei Menschen können mit ihrem Kind einen neuen Anfang machen und den schmutzigen Krieg gegen Menschenkinder erst einmal hinter sich lassen. Die Zukunft ist wieder offen.

 

Und die Weihnachtskrippe, der hölzerne Kahn mit dem rudernden Josef und seiner Familie – erreicht rettendes Ufer. Das ist ein Segen, weit über Weihnachten hinaus.

 

 

Anmerkungen:

(1) Diese Krippe wurde von Krippenbaumeister Manfred Lipienski (Bochum-Dahlhausen) und seinem Team mit Krippenfiguren aus dem ehemaligen Bochumer Redemptoristenkloster für die Ausstellung "Bochumer Krippentage 2015" des Bochumer Krippenvereins entworfen und gebaut. Infos: www.bochumer-krippenverein.de

(2) Kurt Marti, Flucht nach Ägypten, aus: ders., Gedichte am Rand, Teufen – Köln 1963, S. 7.

26.06.2015
Pfarrer Günter Ruddat