Der Esel konnte weiter sehen

Wort zum Tage
Der Esel konnte weiter sehen
10.05.2016 - 06:23
11.01.2016
Ulrike Greim

Er hatte es eigentlich gut. Anders als andere, hatte er eine doppelte Sicherung. Der Himmel schickte ihm einen Engel. Einen, der sich ihm in den Weg stellte. Denn sein Weg war verkehrt. Er hätte ein ganzes Volk ins Verderben geführt, wenn er weiter gegangen wäre. Dumm nur: Er konnte den Engel nicht sehen. Vielleicht war er abgelenkt. Hatte die Augen auf dem smartphone. Vielleicht suchte er per Navi den Weg. Oder las die neuesten facebook-Nachrichten. Rums – schon saß er fest. Zum Glück war er mit einem Reittier unterwegs, mit einer Eselin. Die scheute. Die ging einfach nicht weiter. So sehr er sie auch schlug.

Er hat es gut. Er hat eine doppelte Sicherung. Einen Engel, der sich ihm in den Weg stellt und eine Eselin, die den Engel sehen kann. Dabei ahnt er nicht einmal, dass er es gut hat. Seine Intuition hat er abgeschaltet. Ein Teamplayer war er noch nie. Und wer hört schon auf eine Eselin? Das wissen doch alle: Eine Eselin ist die Dumme, die die Wahrheit ausspricht. Und – na klar, die bekommt die Prügel. Den Shitstorm. Die Presseschelte. Oder – für öffentliche Menschen noch schlimmer: das Presseschweigen. Denn hier müsste die Presse ja zugeben, das Wichtige selber nicht gesehen zu haben. Dann kommt nur ein verlegenes (Weg)Hüsteln und dann geht’s wieder zurück zur Tagesordnung.

Was tut also ein so gesegneter, wichtiger, uneinsichtiger Mensch? Nun, in der  Geschichte des Bileam drischt er, der eigentlich ein Mann Gottes sein will, auf die Eselin ein. Sie versucht, dem Engel im Weg auszuweichen, aber Bileam schlägt sie noch mehr. Da tat der HERR der Eselin den Mund auf, so heißt es in der Bibel, im vierten Buch Mose. Und die Eselin kann deutlich machen, dass sie nicht bockig ist, sondern die einzig Vernünftige.

Da öffnete der HERR dem Bileam die Augen, so heißt es weiter, dass auch er den Engel sehen kann, wie der dasteht mit einem Schwert in der Hand. Bileam erkennt, was los ist, er schämt sich und ist endlich in der Lage, auf den guten Rat zu hören, der ihn rettet.

Am Ende wird er dem Volk zum Segen.

Hat er sich eigentlich danach bedankt? Vielleicht. Ich möchte es tun:

Danke allen Engeln, die sich mir in den Weg stellen. Katharina zum Beispiel. Und Gerhard manchmal. Danke allen Eselinnen und Eseln, die mir helfen, einer unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Meine guten Lehrerinnen. Und die Kabarettisten. Claus von Wagner zum Beispiel, der heute zu Recht dafür geehrt wird. Danke dem, der mir Engel und Esel schickt.

11.01.2016
Ulrike Greim