Suchen und Fragen

Wort zum Tage
Suchen und Fragen
28.10.2016 - 06:23
31.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann

Nach fünf Jahren Israel und Palästina hat mich vielleicht nichts so verändert wie die Begegnung mit den religiösen Eiferern, den Bescheidwissern. Den Fanatikern und Fundamentalisten. Sie gleichen sich so verblüffend. Wie ein Ei dem anderen. Die muslimischen, die jüdischen und die christlichen Fundamentalisten. In Europa steht die Gewalt der Muslime, der „Islamisten“, im Zentrum der Aufmerksamkeit.

In Israel habe ich die Gewalt auch von religiösen Juden kennen gelernt. Sie verwüsten Kirchen, Moscheen und Friedhöfe, sie töten Kinder und Jugendliche und verbrennen sie bei lebendigem Leibe, weil sie sie für die Feinde ihres Glaubens halten.

Die Gewalt der christlichen Fundamentalisten beschränkt sich nicht auf ferne Zeiten wie die der Kreuzzüge. Vor wenigen Jahren zum Beispiel haben Christen aus dem Libanon massenhaft Muslime massakriert, ihnen Kreuze in Brust und Rücken geschnitten und sie so zu Tode gequält.

Solche Erfahrungen haben mich dazu gebracht, nach den Anfängen und Ursachen dieser Gewalt in meiner eigenen, der christlichen Religion zu fragen. Immer wieder begegne ich dabei Überzeugungen, die sich jeden Zweifel, jede Frage, jede Selbstkritik verbieten. Solche Christen sind sich ihres Glaubens so sicher, dass sie für den Glauben anderer kein Verständnis haben. Sie wissen Bescheid. Über den Willen Gottes, über die Wahrheit. Auch wenn dieses christliche Bescheidwissen oft harmlos daher kommt, nehme ich eine Unerbittlichkeit wahr, die keine andere Wahrheit neben sich duldet. Ihr Bescheidwissen lässt mich Unheilvolles ahnen.

Auch ich glaube an den einen Gott, der nicht zulässt, dass wir andere Geschöpfe vergöttern. Auch ich glaube, dass der gekreuzigt und dennoch lebendige Jesus die Wahrheit Gottes ist. Aber der, an den ich glaube, ist unverfügbar, jedem menschlichen Zugriff entzogen. Ich gehöre ihm, aber er gehört nicht mir.

Ein Gebot aus der jüdischen Bibel möchte ich mir jeden Morgen neu zu eigen machen: Fraget nach dem HERRN und nach seiner Macht, suchet sein Antlitz allezeit! (Psalm 105,4)

Ja: An Gott glauben, das heißt für mich, nach ihm suchen und fragen, ihn erwarten, ersehnen und erhoffen. Mein Glaube ist ergänzungsbedürftig. Darum bin ich auf den Glauben anderer angewiesen, die ihrerseits nicht über die eine Wahrheit verfügen. Deshalb lerne ich von Juden und Muslimen, von Hindus und Atheisten - für meinen christlichen Glauben. Ohne das Gespräch mit ihnen, die anders glauben als ich, kann ich gar nicht richtig glauben.

Suchen und Fragen – das verbindet mich mit vielen Juden und Muslimen. Ihnen fühle ich mich viel näher als den Christen, die so genau Bescheid wissen.

31.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann