Dem Rad in die Speichen fallen

Dem Rad in die Speichen fallen
Pfarrer Gereon Alter
01.09.2018 - 23:45

Guten Abend, meine Damen und Herren.

 „Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“ Das hat Dietrich Bonhoeffer gesagt. 1933. Als der von den Nazis geschürte Judenhass zum ersten Mal so richtig greifbar wurde und die große Mehrheit schwieg. Als sich zum ersten Mal abzeichnete, dass aus einem Rechtsstaat ein Unrechtsstaat werden könnte. Wie aktuell sind diese Worte!

Es reicht nicht, im Rückblick auf die Ereignisse von Chemnitz sein Bestürzen zu bekunden, einen besseren Einsatz der Polizei zu geloben oder nach Einzeltätern zu fahnden. Es geht um mehr. Es geht um etwas Grundsätzliches. „Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.”

„Wo ist die bürgerliche Mitte?“, habe ich mich gefragt. Nicht nur in Chemnitz oder Sachsen, sondern überhaupt in unserem Land. Wo sind die, die es nicht tolerieren, dass sich ein wildgewordener Pöbel in Selbstjustiz übt? Wo sind die, die einschreiten oder zumindest ihre Empörung kundtun, wenn auf den Straßen unseres Landes wieder Jagd auf Menschen anderer Herkunft gemacht wird? Wo sind die, die sich klar und deutlich von der anschließend vernehmbar gewordenen Rechtfertigungsrhetorik distanzieren?

Ja, es gab auch klare Stellungnahmen. Es gab sehr gute und differenzierte Kommentare. Von Journalisten wie von Politikern. Und es gab mittlerweile auch größere Demonstrationen gegen gewalttätige Rechtsextreme. Aber die große Mehrheit? … schweigt … oder verharmlost: Das ist halt ein sächsisches Problem. Das ist eine kleine Minderheit. Da sind Menschen auf die Straße gegangen, die sich Sorgen machen.

Ich glaube noch an eine bürgerliche Mitte in unserem Land. Ich glaube daran, dass die meisten von uns ein gesundes Gespür für Recht und Unrecht haben. Ich glaube daran, dass es in unserem Land viele wache und mutige Menschen gibt, die bereit und in der Lage sind, sich der aufziehenden Gefahr entgegen zu stellen. Nur sichtbarer müsste diese Mitte werden und deutlicher vernehmbar. Nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch im Alltag. Am Tresen, an der Werkbank, an der Supermarktkasse. Da, wo die hasserfüllten Parolen fallen. Da, wo die subtilen Zeichen der Menschenverachtung zu sehen sind. Da, wo alle schweigen, obwohl doch das Unrecht zum Himmel schreit.

Wir brauchen eine Koalition der Wachen und Mutigen in unserem Land! Wir brauchen Menschen, die ihre Stimme erheben. Sachlich, differenziert und ausgleichend, aber auch klar und unmissverständlich, wenn es um die Würde von Menschen geht.

Ich höre schon die Kritiker: Kirchenmann bleib bei deinem Leisten und misch dich nicht ein! Du hast noch nicht einmal von Gott gesprochen. – Habe ich nicht? Wirklich nicht? – Auch dazu hat Dietrich Bonhoeffer einen richtungsweisenden Satz formuliert: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Meint: Nur wer sich einmischt, hat auch das Recht von Gott zu sprechen und ihn zu besingen. Denn Gott ist einer,  dem die Würde eines jeden Menschen am Herzen liegt.

Für mich ist mein Glaube an diesen Gott eine starke Motivation, mich einzumischen. Aber das zu tun ist bei weitem nicht nur ein christliches oder religiöses Gebot. Es ist die Aufgabe eines jeden Menschen. Deshalb: Tun wir uns zusammen, ganz gleich welcher Konfession oder Religion wir sind, und setzen wir uns gemeinsam gegen das aufkeimende Unheil in unserer Gesellschaft  ein. Machen wir uns gemeinsam stark gegen Menschenverachtung und Diskriminierung – sei es am Rednerpult oder an der Supermarktkasse.