Sendung nachlesen:
Sterben kann jeder. Es ist nichts Besonderes, da nützt auch kein Mahagonisarg, kein Staatsbegräbnis, kein weises letztes Wort. Der Tod ist ein Totalversagen. Und ein Gott, der stirbt – naja. Jedenfalls ist er kein Held.
Ich bin auch keine Heldin.
In der vierten Klasse sollten wir unser Lieblingsbuch mitbringen. Stolz legte ich einen Band Donald Duck auf den Tisch. Ob ich denn nichts anderes lese, fragte meine Lehrerin säuerlich. Doch, stammelte ich, was eine glatte Lüge war. Anderes begann ich erst später zu lesen. Donald, Dagobert, Tick, Trick und Track blieb ich trotzdem treu. Wer jetzt Micky Maus zufügen will, ist raus. Micky Maus ist was für Langweiler. Immer kann, weiß und macht sie alles richtig. Ist korrekt, freundlich und nervig besserwissend. Micky ist das mausgewordene Erziehungsideal eifriger Pädagogen. Ja, wir haben verstanden: Wir sollen was lernen. Dabei ist es Donald, von dem man für’s Leben lernt. Nämlich wie Scheitern geht. Auch der tausendste Misserfolg hindert ihn nicht, an das große Glück zu glauben, das einmal doch auch ihn treffen muss. Dafür träumt er und kämpft er und zetert er.
Donald ist mein Held, eben weil er kein Held bist. Er ist die menschlichste aller Enten. In ihm finde ich mich wieder, irgendwo zwischen Kleinmut und Größenwahn. Seine Übertreibungen lehren mich Selbstironie. Ständig stolpert Donald über seine kurzen Beine und seine eigenen Ideale. Er ist cholerisch, lächerlich, gewöhnlich. Keine seiner Fähigkeiten ist besonders ausgeprägt. Donald weiß, was Sinnkrisen sind. Er weiß, wie es ist, „ein Niemand, der allernichtigste Niemand in ganz Entenhausen“ zu sein. Ach Donald, du wirst es nie zu etwas Großem bringen. Dennoch lässt du dich nicht unterkriegen: „Heut morgen ist mir die Zunge in den Rührfix gekommen, gestern Abend ist mir das Seifenpulver in die Rühreier gefallen und vorgestern ... na ja!“
Trotzdem gibt er nicht auf. Donald ist ein Stehaufmännchen.
Jesus auch.
Die Verehrung eines Gekreuzigten hat dem Christentum viel Spott eingebracht. Die erste bildliche Darstellung ist ein römisches Graffito aus dem 2. Jahrhundert. Es stellt einen gekreuzigten Esel dar, versehen mit der Unterschrift: „Alexamenos betet seinen Gott an“. Götter hatten glorreich zu sein. Helden eben. Und nun tauchte einer auf, der durch die schändlichste aller Todesstrafen starb. Nur Nichtrömer und Sklaven durften gekreuzigt werden. Warum sollte man an so einen Gott glauben? Warum sollte man einem Gott vertrauen, der in seiner Mission scheitert? Der jämmerlich und hilflos ausgeliefert ist? Ein Gott, der aufs Kreuz gelegt wird?
Im Laufe der Jahrhunderte haben viele Künstler versucht, die Sache geradezubiegen. Sie haben Jesus am Kreuz einen schönen Körper gegeben. Manchmal hat er ein Sixpack, Bauchmuskeln von denen andere träumen. Aber auch, wenn sein Körper ausgemergelt ist, bleibt er ästhetisch. Scheitern ist okay, solange es nicht zu unappetitlich aussieht. Wer will sich schon Sonntag für Sonntag einen Verlierer anschauen? Das wäre eine Zumutung.
Ich glaube, genau das ist es auch. Ein jämmerlicher Gott ist eine Zumutung, weil er in Abgründe zieht. Er zeigt, was Menschsein heißt. Wir sind keine Helden. Wir sind Scheiternde, mal verschuldet und mal unverschuldet. Mal alltäglich und mal existenziell. Mal brennen die Bratkartoffeln an und mal geht eine Beziehung in die Brüche. Immer bleibt Gott an unserer Seite.
Ist Jesus gescheitert? Ich würde sagen: Ja. Er hat ein paar Begeisterte mit sich gezogen. Einmal hat er 5000 satt gemacht. Manche sagen, er sei übers Wasser gegangen. Am Ende hat es trotzdem nicht gereicht. „Kreuzige ihn“, schrie die Menge.
Aber die Auferstehung, rufen die Heldenverehrer. Am Ende gibt es doch die Auferstehung! Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Sie reden vom Triumph und von Stärke. Für sie dient der Karfreitag bloß dazu, den Ostermorgen noch strahlender zu machen.
Nur – warum das alles? Warum stirbt Gott am Kreuz oder lässt seinen Sohn sterben oder lässt – wenn wir schon dabei sind – überhaupt Menschen leiden, sterben?
Ich weiß es nicht. Und ich will erst gar nicht damit anfangen, diese Tatsache wegzuwischen mit dem Hinweis, dass wir uns im Himmel ja alle wiedersehen und ein Fest feiern. Das hoffe ich, verhalten zwar, aber dennoch. Trotzdem kommt es mir falsch vor, die ganze Geschichte auf ihren Schluss zu reduzieren. Als würde ich ein frustrierendes Buch empfehlen mit dem Hinweis, man müsse sich nur hindurchquälen, das Ende werde dann schön. So ein Buch würde ich nicht lesen wollen.
Die Bibel beginnt mit dem Scheitern. Da hat Gott gerade die Welt erschaffen und schön gemacht, hat alles weise geordnet und ein Paradies für die Menschen vorgesehen – und die Menschen wollen nicht. Eva hat eigene Pläne. Wenn das keine Kränkung ist. Und damit nicht genug: Kaum hat sich die erste Menschheitsfamilie auf der Erde eingerichtet, bringt Kain seinen Bruder um. Obwohl Gott ihm ins Gewissen geredet hat, er möge sich auf keinen Fall zur Sünde hinreißen lassen. Niemand scheint so richtig auf ihn hören zu wollen. Also spricht Gott ein Machtwort und flutet die Erde. Wenn die Menschheit nicht will, wie Gott es will, soll sie eben wieder verschwinden. Aber kurze Zeit später schon reut es ihn.
Und so geht es weiter. Die ganze Bibel ist ein Ringen um das gute Leben, ein Ringen um Liebe, Vertrauen und Hoffnung. Wer die Bibel liest und Heldengeschichten erwartet, wird enttäuscht. Selbst ein vermeintlicher Held wie der kleine David mit seiner Zwille verhält sich als König moralisch fragwürdig.
Dafür erzählt sie etwas Anderes: Dennoch-Geschichten. Hiob. Die bittende Witwe. Die Ehebrecherin. Lazarus. Die Bibel erzählt von Menschen, die scheitern. Verschuldet oder unverschuldet, so genau lässt sich das meistens gar nicht trennen. Dass sie es heiter tun, würde ich nicht sagen, aber: Sie verbittern nicht. Sie machen weiter. Sie stehen auf.
Jetzt wäre es Zeit, den Helden auf die Bühne zu bringen. Jesus, den Sohn Gottes, dem alles gelingt. Der den Menschen die Augen öffnet und zeigt, wie es geht. Das Gegenteil passiert. Jesu Mission scheitert ebenfalls. Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Aber nicht geblieben. Auferstanden von den Toten.
Den Schritt in den Tod hätte Gott überspringen können, hätte genauso gut gleich vom Kreuz hinabsteigen können, hätte allen zeigen können, wie Siegen aussieht. Hat er aber nicht.
Ich fand Superheldengeschichten schon immer langweilig. Sie haben nichts mit meinem Leben zu tun. Wann taucht schon im richtigen Moment Supermann auf? Wer Helden braucht, ist zu bequem, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wer Helden braucht, will die alltägliche Realität des Scheiterns nicht wahrhaben.
Auf Instagram und Facebook wird das Leben zur Erfolgsstory. Das gelungene Risotto. Der Halbmarathon. Die fröhlich tobenden Kinder samt Minisaxophon. Retuschiert und in Farbe. Da nutzt auch der Hashtag #fürmehrrealitätaufinstagram nichts. Scheitern ist einfach wenig fotogen, es sei denn zur Förderung von Schadenfreude. Der Idealzustand ist das Gelingen. Dabei weiß jedes Kind, dass mensch durch Versuch und Irrtum lernt. Nur dass der Irrtum meist unter den Teppich gekehrt wird, weil er sich doof anfühlt. Gesellschaftlich werden Erfolge verherrlicht und Misserfolge verteufelt. Wer scheitert, schweigt und verkriecht sich besser. Dabei lernt man aus dem Scheitern viel mehr als aus Erfolgen: So geht’s nicht. Also versuch es anders.
Johannes Haushofer ist Professor an der Universität Princeton. Er hat seinen Lebenslauf des Scheiterns ins Netz gestellt. Eigentlich wollte er damit nur eine Freundin aufmuntern, die eine Stelle nicht bekommen hatte. Die Resonanz war riesig. Als würden die Leute aufatmen, weil sie mit ihren Misserfolgen endlich nicht mehr allein dastehen. Klar: Bei einem Professor an einer Elite-Uni hat viel geklappt. Aber vieles eben auch nicht.
Ich stelle mir vor, wie das wäre: Eine Kultur des Scheiterns. Keine Häme, kein verstecktes Tuscheln. Niemand, der seine misslungenen Versuche verschämt verstecken müsste. Stattdessen ein mutiges „Noch einmal!“ Neuer Versuch.
Als wir klein waren, konnten wir das. Und wenn der Turm zehnmal umfiel – haben wir ihn ein elftes Mal gebaut. Ohne uns als Versager zu fühlen.
Heute baue ich keine Türme mehr, aber ich will ein guter Mensch sein. Freundlich, geduldig, mutig. Ich will widersprechen, wenn in der S-Bahn einer angepöbelt wird. Ich will für eine warmherzige Gesellschaft eintreten, die hilft und verzeiht. Ich will Plastikmüll vermeiden, ich will andere zum Lachen bringen, ich will manchmal Kopf stehen. Aber dann knicke ich doch wieder ein und sehe lächerlich aus. Genau dann brauche ich irgendeinen, der sagt: Steh auf. Nicht so schlimm, noch einmal!
Eine Religion des Scheiterns und des Wiederaufstehens befreit. Niemand muss Superman sein. Wonderwoman auch nicht. Scheitern ist kein individuelles Versagen, sondern etwas, das jeder kennt. Die einen mehr, die anderen weniger. Niemand hat Schuld, nicht gut genug zu sein. Keiner kann lächerlicher aussehen, als ein Gott, der am Kreuz stirbt.
Mein persönlicher Lebenslauf des Scheiterns könnte so aussehen:
Im Alter von 13 Monaten bin ich zum ersten Mal aufgestanden und gleich wieder hingefallen. Das Projekt „Gehen“ brauchte mehrere Anläufe.
Mit 14 Jahren nahm ich an meinem ersten Gedichtwettbewerb teil. Ich war überzeugt, ein Meisterwerk abzuliefern und landete auf Platz 247. Als Trostpreis gab’s ein T-Shirt mit Werbeaufdruck. Ich versagte mit null Punkten in Biologie, teils aus Interesse-, teils aus Verständnislosigkeit. Mein Kunstlehrer attestierte mir fehlendes Talent (heute zeichne ich trotzdem ganz gern). Bei den Bundesjugendspielen kam ich über eine Siegerurkunde nie hinaus. Meine erste Liebe übersah mich und küsste auf dem Abschlussball eine andere. Meine Karriere als Pizzafahrerin endete nach zwei Abenden. Es gab zu viele Beschwerden wegen kalter Pizzen. Ich wurde in die Küche versetzt. Den Brautstrauß fing ich nie. Mir wurde gekündigt. Eine Beziehung und einen Job. Ich verkroch mich und tat ein paar Dinge, die mir peinlich sind. Hefebrötchen blieben klein, 57 Prozent aller Dinge kamen anders als geplant.
Ich bleibe dran.
Ich lese Donald und lache über mich selbst.
Ich liebe einen Gott der Verlierer, der sagt: Das stehen wir zusammen durch.
Ich glaube an eine Gesellschaft, die den Aufstand wagt.
Ich sehe auf Ostern und über mich hinaus.
Es gilt das gesprochene Wort.