Sendung zum Nachlesen
Eigentlich wollte ich doch nur die Mittagsandacht halten.
Doch einige Schüler*innen aus der Schweiz halten mich auf.
Schon den ganzen Morgen sehe ich sie. Sie suchen, auf dem ganzen Gelände der Gedenkstätte Berliner Mauer verteilt, Antworten auf die Fragen auf ihrem Aufgabenzettel. Jetzt stehen sie vor der Kapelle der Versöhnung und erhoffen sich diese Antworten von mir. Ich versuche zu erklären, warum die Versöhnungskirche 1985 gesprengt wurde. 24 Jahre stand sie unzugänglich zwischen der Hinterlandmauer und der großen "Berliner Mauer". Dann wurde sie gesprengt. Im Politbüro-Sprech hieß das: "Durchführung von baulichen Aufgaben für die Erhöhung der Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit an der Staatsgrenze zu Berlin (West)."
Die Jugendlichen verstehen mich nicht. Können sich eine geteilte Stadt gar nicht vorstellen. Ich ja auch nicht.
Und eigentlich wollte ich doch nur die tägliche Mittagsandacht halten.
Es ist der 4. Januar 2020. Übermorgen ist Dreikönigstag und Brigitte hat die Könige schon in der Krippe aufgestellt. Wie jedes Jahr.
Als ich zum Altar gehe, sehe ich: Da steht nur ein König. Zwei fehlen. Stattdessen ein Blatt Papier. Eine Art Bekennerschreiben, wie sich herausstellt.
"Zwei der Drei Könige in Flüchtlingslagern festgehalten", heißt es dort. "Bundesweite politische Kunstaktion entführt Könige aus Krippen."
Ein König werde im Lager Moria auf Lesbos in Griechenland festgehalten. Der andere habe es zwar noch nach Deutschland geschafft, aber jetzt sitze er im Anker-Zentrum Deggendorf fest. Sein Ersuchen, den neugeborenen Messias mit Geschenken zu begrüßen, sei als offenkundig unbegründet abgelehnt worden. Zur effektiven Durchsetzung seiner Abschiebung dürfe er den Landkreis nicht verlassen.
Doch erst mal Mittagsandacht. Wir beten - wie jeden Samstag - für die Toten an den europäischen Grenzen. Wir singen. Wir schweigen.
Ich brauche ein bisschen, bis ich merke, was doch offensichtlich ist: Das passt. Zwei fehlen. Und mit ihnen so viel mehr.
Das passt.
Wir stehen mitten auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost und West und mit vielen anderen singen wir. Beten. Schweigen.
Das ist für mich eine körperliche Erfahrung. Allein die Anwesenheit unserer Körper hier beweist: Keine Grenze bleibt für immer.
Meine Hoffnung sagt:
Genauso wie der Eiserne Vorhang gescheitert ist, wird die europäische Abschottung scheitern.
Gedenktage, Gedenkstätten, Museen werden an sie erinnern. Wir werden glücklich an das Ende der Festung Europa denken und unsere Kinder werden nicht verstehen können, wie man schwarze Menschen sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken ließ. Sie werden nicht verstehen können, warum Menschen in sogenannten Ankerzentren isoliert wurden. Sie werden das alles, sie werden uns nicht verstehen.
Es gilt das gesprochene Wort.