Das politische Berlin hat in dieser Woche den "Herbst der Reformen" eingeläutet. Unter anderem gilt der Sozialstaat als nicht mehr finanzierbar. Eine Kommission soll erarbeiten, wie sich mögliche Veränderungen für die Sozialschwächeren auswirken könnten.
Für Pfarrer Beck aus Hildesheim ist das zu kurzsichtig. Nicht umsonst hätten wir die sozialen Errungenschaften schon seit über 140 Jahren - damit notleidende Menschen grundgesetzlich verbrieft Schutz und Hilfe bekommen können. Leider werde aber in diesen Zeiten wieder das Sozialschwache diffamiert. Dagegen formuliert Pfarrer Beck in seinem Wort zum Sonntag einen eindringlichen Appell: "Schätzt und verteidigt den Sozialstaat. Er ist wichtig und großartig."
Sendetext nachlesen:
Mir stockt manchmal der Atem, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Mir stockt der Atem und ich bin sprachlos, wenn ich sehe, welche Schicksale in den verschiedenen Familien um mich herum von Menschen auszuhalten und zu ertragen sind. Hier ein junger Vater mit einer Krebsdiagnose. Da ist jemand arbeitslos geworden und kann die Kredite nicht mehr bedienen. Und da, da sind die erwachsenen Kinder irgendwie überfordert und finden keinen Weg zur Ausbildung und einem Leben ohne die finanzielle Unterstützung der Eltern.
Eigentlich gibt es in jeder Familie, in jeder Biografie, in jedem Leben kleinere und größere Desaster. Sorgen, die zu groß sind und mit denen Menschen trotzdem irgendwie weiterleben. Stimmt schon, was der Volksmund sagt: "Unter jedem Dach – ein Ach!" Natürlich ist da der Gedanke naheliegend: Hoffentlich passiert uns das nicht.
Immer häufiger denke ich aber auch: Wie gut, dass bei uns im 19. Jahrhundert, schon vor über 140 Jahren, Sozialgesetze entstanden sind. Seit der Zeit wurden die verschiedenen Absicherungen eingeführt. Eine Krankenversicherung, die halbwegs funktioniert. Rente. Arbeitslosenversicherung. Urlaubszeiten und Arbeitsgesetze. All das, was mit der Bezeichnung des Sozialstaates verbunden ist. Klar, vieles davon ist immer wieder reformbedürftig. Aber insgesamt ist es großartig, dass wir in einem Land leben, in dem es diese Absicherungen gibt. Ich weiß schon, welche Einwände jetzt kommen: Der Sozialstaat sei zu teuer. Und manches funktioniere nicht mehr, schon wegen des demografischen Wandels. Wenn in diesen Wochen in Berlin und anderswo über das Bürgergeld, über die Rente und andere Fragen des Sozialstaates diskutiert wird, ist das legitim.
Was aber zum Sozialstaat auch dazu gehört, ist das Wissen darum, dass er eine riesige Errungenschaft ist. Dieses System für Notfälle, diese Solidarität mit denen, bei denen es mit dem selbstständigen Leben nicht läuft. Diese Unterstützung für die, die selbst nichts zur Wirtschaftsleistung beitragen können und doch dazu gehören – nicht als Bürger zweiter Klasse, sondern genauso wie die, die sich für Leistungsträger halten. Gerade als Christ sage ich, dass es großartig ist, nicht nur mit denen zusammenzuhalten, die zur eigenen Religionsgemeinschaft gehören, sondern mit allen. Wenn ich sagen sollte, wofür ich in diesem Land dankbar bin, dann wäre es vor allem dieser Sozialstaat. Es ist eine Verbundenheit mit allen, die eben da sind. Wer nur darauf hinweist, was nicht funktioniert und was schiefläuft, hat das Entscheidende nicht kapiert. Keine Sorge, ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass es auch Missbrauch von Leistungen gibt. Klar, Menschen, die Hilfe annehmen, sind nicht automatisch Heilige. Aber wer nur diese Probleme anspricht, ohne zugleich auch seine Dankbarkeit für das System sozialer Hilfsleistungen zu zeigen, der hat das Entscheidende daran nicht verstanden: die Verbundenheit mit allen Menschen, die da sind. Es ist eine Verbundenheit all derer, denen der Atem stockt, wenn sie von den Schicksalen und dem schweren Leben anderer Menschen hören. Es ist die Verbundenheit derer, die alle – ausnahmslos alle! – auf Hilfe und unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen sind. Es ist diese Verbundenheit, auf die der Sozialstaat aufbaut, die hinter den trockenen Finanzfragen und Debatten steht. Wer immer meint, etwas zu diesen Diskussionen und den Bausteinen des Sozialstaates sagen zu müssen, dem rufe ich zu: Lass vorher, mittendrin und hinterher erkennen, wie wichtig und großartig dieser Sozialstaat ist. Kannst Du das nicht, überleg erst noch mal, was du in der Debatte, am Stammtisch sagen oder in den Sozialen Netzwerken schreiben willst!
Einen guten Sonntag.
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR
Andreas Herzig, Erzbistum Hamburg
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