Feiertag
Nahrung für die Seele
Zur evangelischen Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“
15.02.2015 06:05

Noch schnell ein hastiger Blick in den Spiegel. Dann nickt Monika ihrer alten Mutter kurz zu: „Heute Abend schaue ich noch einmal vorbei.“ Und dann los. Zwanzig Patienten müssen auf der Station versorgt und der Tagesablauf organisiert werden. Monika ist eine erfahrene Krankenschwester. Souverän schmeißt sie die Station, die jungen Schwestern und auch Ärzte schätzen ihren Rat und ihre Hilfe. Sie läuft über die HNO-Station und scherzt im Vorbeigehen mit den nach der Operation manchmal etwas weinerlichen Männern. Unter den Patienten ist sie der ausgesprochene Liebling.

 

Wenn sie abends nachhause geht, ist es still in der Wohnung. Der einzige Sohn ist vor Jahren in eine andere Stadt gezogen. Dafür lebt jetzt die pflegebedürftige Mutter mit in der Wohnung. Schon wenn sie die Tür aufschließt, spürt sie den vorwurfsvollen Blick: Du kümmerst Dich nicht richtig um mich. Warum kommst Du erst jetzt? Hast Du an die Einkäufe gedacht? Im Anblick ihrer alten Mutter ist Monika keineswegs souverän und energievoll, sondern müde und verletzlich. Immer bleibt sie die Tochter, bleibt sie bedürftig, irgendwie unfertig. Wer bin ich, fragt sich Monika manchmal: die verletzliche Tochter oder die gestandene Stationsschwester, der keiner so schnell etwas vormacht?

 

 

Wer stark ist, kann auch schwach sein. Und vermeintlich Schwache haben ihre eigene Stärke. Nie gibt es immer nur die eine Seite. Rollen und Identitäten sind im Fluss. Zuschreibungen verändern sich, Schubladen klemmen oder öffnen sich neu und weit. Jeder Mensch mit seinen Schwächen und Fehlern ist nicht nur die Summe seiner Defizite – sondern viel mehr. Darum geht es bei der diesjährigen Fastenaktion der Evangelischen Kirche mit ihrem Motto: „Du bist schön. Sieben Wochen ohne Runtermachen.“ Zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag werden rund drei Millionen Menschen in Deutschland sich der Aktion anschließen, um dabei eine andere, neue Perspektive auf sich und andere zu gewinnen. Einen weiten und offenen Blick einzuüben, der die Talente und die Schönheit eines Menschen entdeckt – jenseits des perfekten Körpers und jenseits der gesellschaftlichen Norm. Das hilft, das Zusammenleben zu verbessern, betrachten wir uns selbst und andere doch meistens eher kritisch als wohlwollend:

 

Professor Christof Gestrich: Vielleicht kommt das öfters daher, dass wir die anderen Menschen nach unserem Bild von ihm, nach unseren Vorstellungen, nach unserem Bild von ihm messen und behandeln sie wie ein Ding, das entweder funktioniert oder nicht funktioniert. Und wenn wir die Menschen wie eine Sache behandeln und nicht wie eine Person, dann entstehen große Konflikte zwischen uns und den anderen. Aber eigentlich wissen wir, dass jeder Mensch eine eigene Würde (hat) und nicht wie eine Sache behandelt werden darf.

 

Sagt der Berliner Theologieprofessor Christof Gestrich. Er setzt sich seit Jahren mit der Frage nach dem Menschen und seiner Seele in der christlichen Sicht auseinander.

 

Dass Bilder und Vorurteile oft den Blick auf einen Menschen versperren, davon erzählt das Lukasevangelium eine Geschichte:

 

Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn er dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig’ herunter, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. (Lukas 19, 1ff)

 

 

Die Berliner Pfarrerin Anja Siebert-Bright sagt zu der Begegnung von Jesus und Zachäus:

 

Pfarrerin Anja Siebert-Bright: Grundsätzlich ist das Problem ja so, dass wir zwei unterschiedliche Beobachter haben, das heißt zum einen, beobachten wir uns selbst die ganze Zeit, und dann beobachten wir noch die anderen, wie die uns beobachten. Und wenn man diese ganze Beobachtung nimmt, dann verpasst man meistens das eigene Leben, weil man gar nicht dazu kommt, wirklich mal zu überlegen: Wer bin ich denn eigentlich wirklich? Und was sind denn eigentlich meine Erwartungen an mich selbst, wo ich die ganze Zeit beobachte, ob ich das erfülle oder nicht, kann ich das nicht mal für einen Moment weg lassen. Und was ist mit den anderen? Schreib ich das, was die von mir erwarten, nur zu, oder ist es wirklich so, dass sie das erwarten von mir oder traue ich mich nicht, einfach mal zu fragen: Wie siehst du denn mich? Und diese Geschichte mit Zachäus finde ich deshalb so toll, weil Jesus einfach kommt und sagt: Komm’ wir gehen zusammen essen, und da ist keine Zuschreibung erst mal da, da steht erst mal nichts im Raum, da sieht er nicht den Zöllner, da sieht er nicht den Sünder, da sieht er einfach nur den Menschen, der einfach nur auf einem Baum sitzt, der sich für ihn interessiert und der sagt: Komm’ lass und miteinander essen. Und vielleicht ist tatsächlich das, was man lernen kann an der Geschichte, die Einfachheit, dass wir es uns wirklich zu kompliziert machen mit dem, was wir von uns selbst denken.

 

 

Anja Siebert-Bright ist Pfarrerin an der Martin-Luther Kirche in Berlin-Neukölln. Auch sie schließt sich der Fastenaktion an und wird Menschen aus ihrer Gemeinde dazu einladen, zum Beispiel über die Zachäusgeschichte aus der Bibel nachzudenken und eingefahrene Rollen zu überdenken. Wann bin ich souverän, wann verletzlich? Warum bleibe ich für die Mutter immer die Tochter und nicht eine Frau, die sie auf Augenhöhe wahrnimmt? Was sagen die anderen von mir, wie sehe ich mich selber? Wann kann ich aus vollem Herzen zu mir sagen: Du bist schön. So wie du bist, bist du schön. Und wann habe ich das zuletzt zu einem anderen Menschen gesagt?

 

 

Wenn Pfarrerin Siebert-Bright in Neukölln durch die Straßen ihres Kiezes geht, fällt ihr buntes Leben vor die Füße, oft auch gebrochenes Leben. Kaum ein Kiez in Berlin, der sich so rasant verändert wie der um die Martin-Luther Kirche herum: Alteingesessene Neuköllner in der vierten Generation leben neben Studenten und Migranten genauso wie junge, gutausgebildete neben denen, die mit wenigen finanziellen Mitteln über die Runden kommen müssen. Was viele verbindet, ist die Suche nach Antworten auf grundlegende Lebensfragen, beobachtet die Pfarrerin:

 

Anja Siebert-Bright: Na das, was ich spüre bei den Menschen, die so kommen, ist, dass grundsätzlich Fragen nicht geklärt werden in der Gesellschaft, die aber auch wichtig sind, also, die einfache Frage: Warum bin ich da? Oder: Was ist der Sinn des Lebens? Oder: Was kann ich tun, damit meine Beziehungen besser sind oder dass ich mich mehr annehmen kann. Das gibt’s zwar unzählige Ratgeber, die man so alle kaufen kann, aber ich hab’ den Eindruck, dass so richtig die Fragen nicht beantwortet werden.

 

 

Zur Begegnung und zum Gespräch über solche Fragen lädt Anja Siebert-Bright jetzt im Rahmen der Aktion „Sieben Wochen ohne“ ein. Das diesjährige Motto soll sich dabei mit Leben füllen, es soll eine Zeit „ohne Runtermachen“ sein. Sondern sieben Wochen, in denen man einen anderen Blick einübt – auf sich selbst und auf andere. Denn Stärken und Schönheiten wollen entdeckt werden. Christian Morgenstern hat den wunderbaren Satz gesagt: „Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.“

 

 

Seit mehr als dreißig Jahren lädt die evangelische Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“ ein, die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag aus dem gewohnten Normalbetrieb heraus zu heben. Sie knüpft damit an eine lange und breite Fastentradition an. Fasten gehört zum Urbestand von Religionen. Die christliche Fastenzeit vor Ostern und der islamische Ramadan haben ihre Wurzeln im Judentum. Immer sollte der Verzicht auf Nahrung den Weg für innere Konzentration auf Gott bahnen.

 

Auch von Jesus, dem Rabbi, wird erzählt, wie er zum Fasten in die Wüste geht und dort vierzig Tage und Nächte bleibt. Er will sich dem großen Hunger aussetzen. Und es hungert ihn nicht nur nach der Nahrung, nach der der Körper verlangt, sondern nach Nahrung für seine Seele, die an Gott hängt. Fasten und Beten gehen Hand in Hand.

 

Vierzig Tage und Nächte – eine lange Zeit, die Jesus braucht, um sich Gott in der Einsamkeit zu nähern.

 

Nur wenige Jahrhunderte nach seinem Tod, hat die Alte Kirche in Erinnerung daran vor das Osterfest eine längere Bußzeit gesetzt, die heutige Fasten- oder Passionszeit. Sieben Wochen: Vierzig Tage, vierzig Nächte, von Aschermittwoch bis Karsamstag, die Sonntage ausgenommen. Denn an ihnen wird traditionell nicht gefastet. Diese sieben Wochen waren von jeher eine Zeit der inneren Einkehr, in der Christen sich an das Leiden und Sterben Jesu Christi erinnern und sich auf seine Auferstehung an Ostern vorbereiten.

 

Diese Erinnerung hält zugleich die Frage nach dem eigenen Menschsein vor Gott wach, denn der christliche Glaube sieht zuerst in Jesus das Ebenbild Gottes, weiß Christof Gestrich:

 

Professor Christof Gestrich: Das vollkommene Ebenbild Gottes ist sicher Christus allein und wir Menschen sind eben nicht vollkommen. Und werden, ach, schuldig gelegentlich; und trotzdem bedeutet Gottebenbildlichkeit, dass Gott an uns festhält. Er hat auch in die Menschen so etwas wie eine Geistseele hinein gelegt, in der (der göttliche Funke , äh,) in welcher der göttliche Funke nicht verglimmt und das richtet uns irgendwann auch wieder auf. Er hält an uns fest.

 

 

Wer von Gottebenbildlichkeit redet, sagt damit: Gott hat den Menschen zu seinem Gegenüber geschaffen, dessen Existenz er will und wertschätzt. Aus diesem Glauben kann Vertrauen und Selbstbewusstsein wachsen. Das kann einen stärker machen gegenüber einem zu strengen Blick auf sich selbst. Und es kann einen stärker machen gegenüber den Bildern, die andere von einem haben; gegenüber den Etiketten, die sie einem ankleben. Der Schweizer Pfarrer Urs Boller hat das in einem seiner Texte beschrieben – und gefeiert:

 

Meine Mutter sagt:
Du bist zu klein.
Der Lehrer meint:
Du bist schwer von Begriff.
Der Pfarrer schimpft:
Du bist verdorben.
Meine Kameraden lachen:
Du hast verloren.
Der Berufsberater weiß:
Du bist nicht geeignet.
Der Meister bestimmt:
Der andere ist besser.
Der Leutnant brüllt:
Du hast keine Haltung.
Gott sagt:
Du bist mir ähnlich.
Gott sei Dank! [1]

 

Gottebenbildlichkeit bedeutet, dass Gott an uns festhält, sagt Christof Gestrich. Darüber hinaus sieht der Berliner Theologe in der Gottebenbildlichkeit drei besondere Gaben oder „Befähigungen“ des Menschen.

 

 

Professor Christof Gestrich: Die eine ist die Befähigung zur Vernünftigkeit, wir sollen uns unseres Verstandes gebrauchen, bedienen. Und sollen auch die Erkenntnis der wahren Verhältnisse nicht scheuen. Wir sollen uns nichts vormachen. Die zweite Befähigung der Gottesebenbildlichkeit, die könnte man Verantwortlichkeit nennen, wir können auf der Ebene der zehn Gebote so einigermaßen ordentlich durch’s Leben durchkommen und uns auch wieder fangen. Und das dritte, was in der Gottesebenbildlichkeit liegt: Uns ist Sprache gegeben. Aber was heißt das? Wir sollen die Sprache gut gebrauchen, nicht lügen, Frieden stiftend sie einsetzen. Wir haben Möglichkeiten, mit der Sprache wieder in Ordnung zu bringen. Und das ist eine ganze Menge, wie uns unsere Ausstattung mit der Geistseele, hilft...(...)

 

Es bedeutet, dass wir viel Verantwortung tragen, und das bedeutet für mich als Einzelnen, dass ich nicht alles mache, was ich machen kann. Ich enthalte mich auch bestimmter Dinge, die schädlich wären. Hier hat z.B. auch das Fasten seine Anbindung, an die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Klugerweise enthält er sich auch mancher Dinge.

 

 

Fasten heißt verzichten auf Dinge, die sonst dazugehören. Für viele beginnen am Aschermittwoch sieben Wochen ohne Süßigkeiten oder ohne Alkohol, ohne Fernsehen oder auch ohne Facebook. Die gewonnene Zeit wird sich mit anderem füllen; der bewusste Verzicht wird helfen, das Leben intensiver zu spüren und Nahrung für die Seele bekommen.

 

In diesem Jahr sollen es nun vor allem „sieben Wochen ohne Runtermachen“ werden, sagt die Fastenaktion der Evangelischen Kirche. Der kritische Blick, der zuerst am Negativen an einem selbst oder an anderen hängen bleibt, soll einem freundlichen Blick weichen, der zuerst Stärken und Schönheiten sieht. Das kann man bewusst angehen und einüben.

 

Viele Menschen suchen dabei zugleich eine größere Nähe zu Gott. Für sie gehören Fasten und Beten eng zusammen. Wer still wird und sich für Gott öffnet, möchte spüren, mit welchen Augen Gott ihn anschaut. Der Theologe Fulbert Steffensky spricht von dem „Blick der Güte“.

 

 

Das Gebet ist der höchste Ort der Passivität; des Verzichts darauf, sein eigener Liebhaber und Schönfinder zu sein. Es ist die Passivität, die sich nicht wehrt gegen den Blick, der uns schön und reich findet. Im Gebet weiß ich, dass ich nicht mein Selbsterbauer und Selbstrechtfertiger bin. Ich sage mich aus, ich überliefere mich dem Blick der Güte. Im Gebet haben wir aufgehört, etwas für uns selbst vorzubringen – eine Rechtfertigung, eine Entschuldigung, eine vorweisbare Stärke… Vielleicht können wir uns selber nur ertragen und mit uns selber auskommen, indem wir im Gebet wegschwimmen in den Blick der Güte. Vielleicht können wir nur dann ruhig, stark und lebensgewiss sein, wenn wir nicht gezwungen sind, wir selber zu sein; wenn wir wissen, dass wir die sind, als die wir angesehen werden.[2]

 

 

Wer mit dem Blick der Güte angesehen wird, verändert sich. Und kann dann wie von selbst auch andere mit neuen Augen ansehen. Und wird ihnen auch mal sagen, was sich dabei zeigt.

 

So geht es beim Fasten nicht nur um neue Nahrung für die eigene Seele, sondern auch um neue Nahrung für die Beziehungen untereinander. Und möglicherweise bleibt etwas davon und geht weiter – über die kommenden sieben Wochen hinaus.

 

 


[1] Urs Boller, in: Spuren auf der Suche nach Gott, Verband katholischer Pfadfinder, Zürich 1987, S. 70

[2] Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Echter Verlag, Würzburg 2002, S. 17.