Der Schriftsteller Thomas Mann wurde einmal gefragt, woran er glaube und was er am höchsten stelle. Er gab diese Antwort:
"Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage, woran ich glaube oder was ich am höchsten stelle, antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit, – und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe." (1)
Die Vergänglichkeit schaffe Zeit; und "Zeit" sei ihrem Wesen nach "identisch mit allem Schöpferischen und Tätigen", so Thomas Mann. Beruht nicht tatsächlich der Reiz, ja die ganze Faszination des Lebens gerade darauf, dass es begrenzt ist? Warum sollte ich heute schon tun, wozu auch später, sagen wir in hundert Jahren, noch Zeit wäre?
Wenn es aber die Vergänglichkeit ist, die unserem Leben Entscheidungscharakter gibt und allem, was wir tun, seinen Wert, weil sie uns Zeit schafft, dann stellt sich die Frage, was das ist: Zeit? Und wem sie eigentlich gehört? Und wie wir angemessen, "nutzbar" mit ihr umgehen?
Um zu einer Antwort zu kommen, ist mir ein Wort aus den biblischen Psalmen hilfreich geworden, das lautet:
"Meine Zeit steht in Deinen Händen, Gott." (Psalm 31,16)
Nun ist mit "Zeit" gewiss meine Lebenszeit gemeint. Also die Zeit zwischen Geburt und Tod, die Tage, Monate und Jahre, die ich lebe. Aber "Zeit" meint hier noch mehr. Sie bedeutet soviel wie Geschick. Also meine Lebensgeschichte, meine Erfahrungen, Wünsche und Ziele. Das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, dunklen und hellen Seiten, die bei jedem Menschen anders Ausdruck finden. Von dieser Zeit, heißt es, sie stehe in Gottes Händen. Damit sagt der Psalmbeter zunächst, dass auch die begrenzte Zeit unseres Lebens in Wahrheit gar nicht uns Menschen gehört. Sie ist nicht unser Besitz.
Das könnten wir natürlich aus Erfahrung wissen, wenn wir daran denken, wie unberechenbar das Leben ist. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Tornados oder auch die vielen von uns Menschen verursachten Unglücksfälle bis hin zu Krankheit und Verlust, die plötzlich über uns kommen können, führen uns schmerzhaft vor Augen, wie schnell alles ganz anders kommen kann, als wir gedacht und geplant haben. Nichts ahnend gehst du wie jeden Morgen aus dem Haus, um deinen Geschäften nachzugehen. Doch jenseits dessen, was du wahrnimmst, erwartet dich das Unvorhergesehene. Wenn wir uns dieser Realität stellen und den Tod nicht verdrängen, dann wird deutlich – Zeit ist und bleibt eine zutiefst unbekannte, geheimnisvolle, nicht berechenbare Größe, die uns nicht gehört. Doch wem gehört sie dann? Darauf antwortet der Psalmbeter:
"Gott gehört sie, Ihm allein. Unsere Zeit steht in Gottes Händen."
Damit meint der Psalmbeter – deine und meine Zeit ist Geschenk, eine Gabe Gottes. Dass es sich so verhält, wurde mir einmal in einem Bild anschaulich:
Im Landkreis Bremervörde gibt es ein kleines Dorf mit einer alten Kirche, deren Turm eine Uhr hat. Das Besondere dieser Turmuhr ist – ihr Zifferblatt hat statt der Zahlen zwölf Buchstaben. Die ergeben den Satz: ZEIT IST GNADE. "Zeit" hat vier – "ist" drei und "Gnade" fünf Buchstaben – macht zusammen zwölf.
Wer also auf diese Uhr schaut, wird daran erinnert: "Zeit" ist ein unverdientes Geschenk, ja, eine große, wunderbare Gabe. Genauer: Eine Leihgabe Gottes. Mit anderen Worten: Nicht in unseren Händen, sondern in Gottes Händen steht unsere Lebens-Zeit. "Zeit" ist uns Menschen immer nur geliehen. Dazu eine Geschichte aus rabbinischer Tradition:
Rabbi Meir saß einmal im Lehrhaus und hielt einen Vortrag. Während dieser Zeit starben daheim seine zwei Söhne. Ihre Mutter legte sie auf das Bett und breitete ein Tuch über sie aus. Als Rabbi Meir zurückkam und nach seinen Söhnen fragte, sagte die Frau: "Rabbi, ich habe eine Frage an dich. Vor einiger Zeit kam ein Mann und gab mir etwas zur Aufbewahrung. Jetzt kommt er, um es wieder zu holen. Sollen wir es ihm zurückgeben oder nicht?"
Darauf sprach der Rabbi: "Wer etwas zur Aufbewahrung erhalten hat, muss es natürlich seinem Eigentümer wieder zurückgeben."
Nach diesen Worten führte ihn die Frau in das Zimmer, wo die beiden Söhne lagen. Als der Rabbi seine Söhne tot auf dem Bett liegen sah, weinte er und rief: "Meine Söhne, meine Söhne! Die Leuchte meiner Augen." Und nach einer Weile sprach er leise aus dem Buch Hiob die Worte: "Der Ewige hat es gegeben, der Ewige hat es genommen, der Name des Ewigen sei gelobt." (2)
Das Besondere dieses Hiob-Wortes besteht nicht nur darin, dass unmissverständlich erklärt wird, alles Leben sei nur "geliehen"; und wenn es Gott ist, der das Leben gibt, er es auch wieder nehmen kann. Das zu erkennen, wäre schon eine große Sache. Nun sieht es aber so aus, als würde Hiob diese Aussage noch überbieten dadurch, dass er im Augenblick des Verlusts zuerst sagt: "Der Herr hat’s gegeben". Das ist so, als würde Hiob Gott nur wieder zurückgeben, was er von ihm zuvor (auf Zeit) empfangen hat. Danach ist es nicht der Tod, der ein Leben beendet oder Gott, der es nimmt, sondern der Mensch, der es Gott zurückgibt. Und so kommt es im Munde Hiobs nach dem "Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen" zu dem Lobpreis: Der Name des Herrn sei gelobt.
Wenn Zeit "die höchste, nutzbarste Gabe" ist, wie Thomas Mann sagt, dann kommt alles darauf an, sie richtig zu nutzen. Wie aber kann das gelingen? In einem Gleichnis, das ich frei nacherzählen möchte, macht Jesus anschaulich, wie wir "nutzbar" mit der Zeit als einem uns anvertrauten Talent umgehen sollen:
Als Gott außer Landes ging, rief er die Menschen und vertraute ihnen seine Zeit an. Er gab einem jeden, maß aber die Zeit nicht nach ihrer Länge und Breite zu, sondern nach ihrem Gewicht. So gab er dem einen fünf Zentner Zeit, dem anderen zwei, dem dritten einen Zentner Zeit, jedem nach seinen Möglichkeiten, und zog fort. Und Gott sah, dass die Menschen sehr verschieden mit der ihnen anvertrauten Zeit umgingen.
Der fünf Zentner Zeit empfangen hatte, ging sogleich hin, nutzte seine Zeit und schlug nicht eine einzige Stunde tot. Er achtete die Zeit als Gabe, die ihm geliehen war und über die er einmal Rechenschaft ablegen würde. Vor allem aber wusste er um das Geheimnis der Vermehrung von Zeit. Denn wo ihn jemand um Zeit bat, da schenkte er Zeit und mit der Zeit, das spürte jeder, sich selbst. Aber soviel er von seiner Zeit in Liebe an andere weitergab, sie wurde nicht knapper. Es war, als würde er aus einem unerschöpflichen Vorrat nehmen, aus einer nie versiegenden Quelle der Zeit schöpfen. Die Früchte der ihm anvertrauten Zeit waren unübersehbar.
So war es auch mit dem, der zwei Zentner Zeit empfangen hatte. Am Ende hatte seine Zeit viele Früchte getragen.
Der aber einen Zentner Zeit empfangen hatte, ging hin und versteckte seine Zeit: Er hatte immer das Gefühl, nie richtig Zeit zu haben. Darum ging es ihm auch so oft über die Lippen, dieses "ich habe keine Zeit". Sein Kalender ließ ihm keine Ecken und Nischen von Zeit; auch nicht im Urlaub. Denn er verplante ihn bis zur letzten Minute, so dass es für ihn keine Freizeit gab. Sein Lieblingswort war: "Zeit ist Geld". Und tatsächlich wurde in seinen Händen alle Zeit, die er hatte, zu Geld. Auch an Feiertagen ließ er die Maschinen weiterlaufen. Den Zehnten seiner Zeit Gott zu geben, vergaß er. So störte es ihn wenig, als man von offizieller Seite daran ging, Feiertage zu streichen, um Staatsausgaben zu finanzieren, und immer mehr verkaufsoffene Sonntage einzurichten. Er glaubte, sich für Geld alles kaufen zu können. Alles, ja, nur keine sinnerfüllte Zeit, keine Freundschaft, keine Freude. Denn dafür gibt es keine Kaufhäuser.
Als Gott nach langer Zeit kam und Rechenschaft über die ihm anvertraute Zeit verlangte, da wurde er gewogen und zu leicht befunden. (nach Matthäus 25, 14-30)
Ich wohne in Schleswig Holstein nah bei Schleswig, der Stadt an der Schlei. Dort gibt es eine kleine Fischersiedlung, den Holm. Was ihn so ungewöhnlich macht und mich immer neu zum Nachdenken herausfordert, ist dies: Ein Friedhof war und ist bis heute Mittelpunkt und Herz der alten Fischersiedlung. An seinem Eingangstor finden sich die Zeichen von Kreuz, Herz und Anker für "Glaube, Liebe, Hoffnung" – und ein Schmetterling, Symbol der Verwandlung aus dem Tod ins Leben, von dem die Dichterin Nelly Sachs sagt:
"Welch schönes Jenseits ist in deinen Staub gemalt."
Nun gibt es viele wichtige Fragen an das Leben. Aber die wichtigste Frage stellt der Tod. Was im Leben dem Tod nicht standhält, ist zu wenig. Dafür gilt – gewogen und zu leicht befunden. Der Friedhof – Ort der Stille im Herzen des Holms – ist für mich, sooft ich ihn aufsuche, eine Art Unterbrechung des Alltags. Er hilft mir innezuhalten und ermutigt mich, mit dem Gedanken an den Tod vertraut zu werden; aber nicht so, dass mein Leben dadurch verdrießlich oder mürrisch wird, sondern im Gegenteil, noch fröhlicher, beweglicher und vor allem gelassener.
Der Friedhof ist so etwas wie das Gedächtnis der Fischersiedlung. Seine Erde birgt das Geheimnis vergangenen Lebens durch die Jahrhunderte. Dieses "Haus des Lebens", wie der Friedhof in jüdischer Tradition genannt wird, verbindet Menschen von heute mit denen, die waren, und erinnert an die Zukunft, an Hoffnung und Leben über den Tod hinaus. Dafür steht die Holmer Beliebung, eine Totengilde, die im Jahre 1650 ins Leben gerufen wurde:
In Pest- und Sterbenszeiten hatte es unter den Holmern keine Nachbarschaftshilfe gegeben. Auch hatte man die Toten ungern zu Grabe getragen. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurde einhellig "beliebet, bewilliget und beschlossen", eine Beliebung aufzurichten. Ihre Mitglieder haben sich verpflichtet, beieinander zu stehen im Leben und im Sterben.
Höhepunkt im Leben der Beliebung und der gesamten Siedlung ist das alljährlich zwei Wochen nach Pfingsten veranstaltete Beliebungsfest mit der traditionellen Totenehrung am Holmer Friedhof. Die Holmer Beliebung hat eine Satzung. Ihr stehen diese Verszeilen voran:
"Hilf, Gott, dass, wo ich geh und steh
Ich stets mein Grab vor mir erblicke.
Wohl dem, der täglich sterben kann
Der trifft im Tod das Leben an …
O Mensch! In allem, was du tust
Bedenke, dass du sterben musst."
Diese Worte erinnern an das biblische Wort:
"Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden."
Ein Wort aus Psalm 90, den ich bei fast jeder Trauerfeier in der kleinen Friedhofkapelle verlesen habe. Der Psalmsänger erklärt, dass die Weisheit oder Klugheit, die einem Menschen zuteil werden kann, etwas damit zu tun hat, dass wir unser Sterben bedenken. Leider ist uns diese Wahrheit (weitgehend) abhanden gekommen. Denn wir Menschen sind außerordentlich erfinderisch darin, Tod und Sterben zu verdrängen. Schon der Physiker und Philosoph Blaise Pascal erklärte:
"Da es den Menschen nicht gelungen ist, den Tod abzuschaffen, haben sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken."
Dabei ist das Wissen um das Sterbenmüssen etwas höchst Kreatives. Es setzt in uns schöpferische Kräfte frei. So hätte zum Beispiel der Schauspieler Ernst Ginsberg niemals Gedichte geschrieben ohne seine Krankheit zum Tode und sein Wissen um den baldigen Tod. Grundthema seiner Gedichte ist das apprendre à mourir / das Lernen zu sterben, das Montaigne in seinen Essays als Ziel des Lebens bezeichnet. Sie sprechen vom Umgang mit der Krankheit, von dem, was Ginsberg von Stunde zu Stunde die Wegzehrung für die letzte Straße gab, vom Glauben. Als "tägliches Gebet in langer Krankheit" formuliert er:
"Ich bitte dich, Herr, um die große Kraft
diesen kleinen Tag zu bestehen,
um auf dem Wege zu Dir,
einen kleinen Schritt weiterzugehen. (3)"
Was aber würde es bedeuten, zu bedenken, dass wir sterben müssen? Jemand hat so ausgedrückt:
"Ich erwarte, dass ich nur einmal durch die Welt gehe. Deshalb will ich alles Gute, das ich tun kann, jetzt tun. Und jede Freundlichkeit, die ich einem Menschen erweisen kann, jetzt erweisen. Ich will es nicht verschieben und nicht übersehen, denn ich werde den gleichen Weg nicht zurückkommen."
Am Toten- bzw. Ewigkeitssonntag gedenken wir der Verstorbenen. Für manchen ist die Erinnerung schmerzhaft. Nicht nur weil es schwer ist, mit dem Verlust eines Menschen und dem Alleinsein fertig zu werden. Schmerzhaft vielleicht auch, weil er denkt: Hätte ich doch nur dieses noch getan oder jenes gelassen. Hätte ich doch jetzt noch einmal Gelegenheit, dieses oder jenes zu sagen. Aber zu spät.
Was bleibt, ist der Gang zum Friedhof, zum Grab. Nicht für die Toten sind Stein und Blumen wichtig. Wohl aber für uns, die wir leben. Die Toten brauchen uns nicht mehr. Aber wir brauchen eine Stätte der Erinnerung an die, die im Leben einmal zu uns gehörten. Und so bringen wir Blumen und Kränze den Toten, den Gefallenen, den Opfern von Hass und Gewalt. Lauter Blumen für die Toten.
Warum denn aber so spät?
Wäre es nicht wichtiger, den Menschen, solange sie leben, und da noch viel öfter, ein Zeichen unserer Zuneigung, unseres Gedenkens in Liebe zukommen zu lassen? Im Leben und Alltag fehlen uns Blumen der Versöhnung und des Friedens.
Nötig sind Blumen eines freundlichen Wortes. Denn "ein Wort, geredet zu rechter Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen." (Sprüche 25, 11)
Vielleicht gehören wir selbst zu denen, die sich manchmal nach einem guten Wort, einer liebenden Hand gesehnt haben. Neben uns leben Menschen, die als Flüchtlinge, Asylsuchende oder Obdachlose andere Lebensgewohnheiten haben. Vielleicht fällt es schwer, sie zu verstehen. Aber gerade sie brauchen Blumen von Annahme und Liebe. Neben uns leben Völker auf dieser Erde, die wie wir ihrer Toten gedenken. Sie wollen wie wir in Frieden leben. Aber es gibt Wunden, Ängste und Misstrauen. Dahinein gehören Blumen, Blumen des Vertrauens, der Gesprächsbereitschaft, der Versöhnung.
Blumen für die Toten? Nein, vor allem und zuerst für die Lebenden. Noch ist Zeit und Gelegenheit. Aber es gibt ein Zuspät. Ein Lob der Vergänglichkeit! Denn sie ist es, die uns heute noch anfangen lässt, so zu leben, wie wir am Ende einmal gelebt haben möchten.
Literaturangaben:
(1) Thomas Mann, Essays Band 6, Meine Zeit 1945-1955, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, S. Fischer Verlag 1997, S. 219 (8 Zeilen)
(2) Weisung der Freude, herausgegeben von Gertrude und Thomas Sartory, Herder 633, S. 44f (17 Zeilen)
(3) Ernst Ginsberg, Abschied, S. 244 (4 Zeilen)