gemeinfrei via pixabay / Ryan McGuire
Gottes Kraft und unsere ersten Lebensjahre
Kinder, die in Krisenfamilien oder Krisengebieten aufwachsen
11.05.2025 07:05

Kinder in sicherer Obhut großziehen. Das ist nicht allen Eltern möglich. Entweder sie haben mit eigenen Problemen zu kämpfen. Oder die äußere Situation ist bedrohlich. Aber es gibt Wege und vor allem Menschen, die Kindern in Not beistehen.

Sendung nachlesen:

Kinder stehen unter Gottes besonderem Schutz, so sagt es die Bibel. Jesus schärft dies mit einem starken Bild seinen Zuhörerinnen und Zuhörern ein. Er ruft ein Kind zu sich und bittet es, in die Mitte zu kommen. Dann sagt er zu den Erwachsenen: "Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines himmlischen Vaters." (Matthäus 18,10) 

Als einmal seine Jünger die Kinder von ihm fern halten wollen, widerspricht Jesus in aller Deutlichkeit und sagt: "Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich." (Matthäus 19,14)

Damit stellt Jesus die übliche Sichtweise auf den Kopf. Kinder sind in den Augen der Bibel eben nicht unwissend oder unbedeutend. Im Gegenteil: Sie haben eine besondere Nähe zu Gott.

Für Erwachsene heißt dies: Wenn sie Kinder mit Respekt behandeln, ihre Neugier fördern und sie fürsorglich erziehen, rückt der Himmel ein Stück näher. 

Der Wunsch, Kinder zu schützen, ist in unserer Biologie angelegt. Der Beschützerinstinkt ist Teil unseres genetischen Programms. Und das ist gut so. Schließlich geht es um den Nachwuchs und letztlich um den Fortbestand der Menschheit. Aber noch wichtiger: Kinder dienen keinem Zweck. Sie stehen nicht nur für die Zukunft, sondern sie leben jetzt und hier. Sie sind Kinder Gottes – so wie wir Großen auch. Sie gehören uns Erwachsenen nicht. Sie sind uns anvertraut und brauchen unsere Fürsorge.

Auslöser für den Beschützerinstinkt ist das sogenannte Kindchenschema: Schlüsselreize wie ein unverhältnismäßig großer Kopf mit einer hohen Stirn und großen Augen stimulieren unser Gehirn in positiver Weise. Brutpflege nennt es die Wissenschaft. Sie ist notwendig, weil Kinder darauf angewiesen sind, lange Zeit in einer liebevollen Umgebung aufzuwachsen und mit allem Nötigen versorgt zu werden.  

Kinder in sicherer Obhut großzuziehen – das ist für Eltern oft nicht einfach, manchmal sogar unmöglich. Gut, dass es bei uns Institutionen gibt, die dann eingreifen, wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu versorgen. Jugendamt und Kriseneltern-dienst gehören dazu. Gefährdete Kinder werden aus ihren Ursprungsfamilien herausgeholt und vorübergehend bei Krisenpflegeeltern untergebracht, bis eine Lösung gefunden ist. 


Das ist immer ein dramatischer Schritt. Die Kinder verlieren das, was ihnen bisher vertraut war. Zunächst mag es sich für sie anfühlen, als ob das letzte bisschen Sicherheit nun auch noch verloren geht.

Einer, der solche Kinder aufnimmt, ist Gerhard. 14 Kinder hat er - mit Unterstützung seiner Frau Luisa - bisher als Krisenpflegevater betreut, oft über viele Monate hinweg. Die Kinder sind zwischen 0 und sieben Jahre alt, wenn Gerhard und seine Frau sie auf-nehmen. 

Eines haben alle Kinder gemeinsam: Sie sind Lebensverhältnissen entkommen, die ihr Wohlergehen massiv bedrohen. Das hinterlässt Spuren, schon bei Neugeborenen. Aber eines hilft: Die Kinder haben den unbedingten Wunsch zu leben. Vor allem zu überleben und dann, sobald es möglich ist, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. 

Natürlich - je nach Alter - testen sie zunächst, ob die neue Umgebung vertrauenswürdig ist. Aber sobald die Angst überwunden ist, wachsen auch die kindliche Neugier und der Forscherdrang.

Genau diese Sicherheit will Gerhard den Kindern geben. Zu 100 Prozent.  

"Das überwiegende Gefühl ist einfach nur Freude. Und dann zu sehen, wie dieses winzig kleine Menschenkind tatsächlich sich ganz langsam dahin entwickelt, wo du es gern hinhaben willst, nämlich in Zufriedenheit, in Sicherheit." 

Das ist anstrengend. Denn das Stress-System der gefährdeten Kinder ist beschädigt und deshalb brauchen sie mehr: Mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung, mehr Respekt, einen geregelten Rhythmus und - ganz wichtig - gutes Essen. Dann lernen auch sie, darauf zu vertrauen: Es darf mir gut gehen, und es gibt Menschen, die es gut mit mir meinen.

"Das merkst du ja auch, dass nach einigen Wochen tatsächlich so ein Rhythmus drin ist, so ein Schlafrhythmus, ein Essensrhythmus, dass du weißt: Dieses junge Menschenkind hat sozusagen offensichtlich gemerkt, wenn ich ‚Ah‘ mache, dann kommt auch jemand, der dafür Sorge trägt, dass mein Hunger wieder gestillt wird, und dann kann ich mich anschließend wieder zur Ruhe begeben, bis ich dann das nächste Mal ‚Ah‘ mache." 

Ja, bei den Krisenkindern gehen Liebe und Lebensfreude wirklich durch den Magen. Wenn sie essen, was mit Liebe gekocht wurde, was ihnen schmeckt, dann erfahren sie, welch köstliche Dinge die Welt für sie bereithält. Sie lernen: Essen hat etwas mit Gemeinschaft, mit Geborgenheit zu tun. Und sie lernen - manchmal sehr mühsam - zu genießen. Mehr noch, sie finden zu ihrer Kraft: 

"Ich erinnere mich an ein Kind, das wirklich fast verhungert war, dem wir richtig viel angebastelt haben – an Gewicht und auch an Muskulatur. 
Der hatte wirklich diese, wie man sie kennt, so diese dicken Knie, die dünnen Oberschenkel, die dünnen Unterschenkel… Bei uns hat er gewichtsmäßig zugenommen, hat muskulaturmäßig zugenommen. Wir waren in einem Wald, und er mit seinem kleinen Bruder zog aus dem Wald dicke, feste Äste heraus. Dann kam er zu uns, stand da und strahlte vor Freude: ‚So viel Kraft hatte ich noch nie!'"

Und doch bei allen guten Erfahrungen bei den Krisen-Pflegeeltern: Kinder aus der Familie herauszunehmen, bleibt ein großer Schritt. Selbst wenn es zu ihrem Wohl geschieht. Denn Kinder werden aus ihrem Alltag mit den Eltern gerissen – obwohl dieser Alltag gefährlich für sie ist. Die Trennung ist auch für die Eltern oft ein Schock, weil sie damit nicht gerechnet haben. 

Der Schock kann jedoch in eine Krise führen, in der sich neue Kräfte entwickeln. Aber dazu braucht es professionelle Hilfe für die Eltern, die den Fokus legt auf die Sehn-sucht der Eltern nach ihrem Kind. Diese Sehnsucht kann sich zu einer starken Triebfeder entwickeln, um selbst wieder gesund werden zu wollen. 

Gerhard erzählt von der Mutter eines kleinen Mädchens, die viele Jahre lang drogen-abhängig war. Letztlich hat sie es geschafft, sich vom ebenfalls drogenabhängigen Vater des Kindes zu trennen. Sie hat sogar einen Entzug durchgestanden, damit ihr Kind zu ihr zurückkehren durfte.  

"Ich hätte nicht gedacht, dass die Mama die Kraft noch aufbringen kann. Zu dem Zeitpunkt war sie ja seit über 20 Jahren drogenabhängig. Dass sie sich tatsächlich so weit aus der Drogenabhängigkeit befreien kann, dass sie die Verantwortung für ihre kleine Tochter übernehmen kann, das hat mich wirklich gefreut." 

Was bringt einen Krisenpflegevater wie Gerhard dazu, solche Verantwortung zu übernehmen? Der Umgang mit den Kindern macht ja nicht nur Freude, er ist auch anstrengend. Aber es hält den 70-Jährigen jung, sich um die Kinder zu kümmern und mit ihnen zu leben. Man tut dann als Erwachsener Dinge, die man ohne Kinder vielleicht unterlassen würde. Sie machen aber viel Spaß. Gerhard tobt zum Beispiel gern mit den Kindern im Garten herum oder spielt Fußball mit ihnen. 

Immer wieder bringen ihn die Kinder zum Staunen: Wenn sie einmal Vertrauen gefasst haben, werden sie zu unermüdlichen Forschern. Wie eines seiner Pflegekinder zum Beispiel. Der anderthalbjährige Junge hatte plötzlich entdeckt, wie er Türen öffnen kann. Und zwar von innen wie von außen. Stundenlang hat er sich damit beschäftigt. Was mag in seinem Köpfchen vorgegangen sein? 

"Ich möchte da rein und jetzt muss ich versuchen, dieses Ich-möchte-da-rein auch tat-sächlich in die Tat umzusetzen. Dazu gehört, ich muss diese Tür öffnen. Und wenn ich die Tür nicht von außen öffnen kann, dann probiere ich mal, ob ich die Tür von innen öffnen kann. Und sein Gesicht bekam immer mehr Lachfalten, weil er sich über seinen Erfolg so gefreut hat." 

Gerhard und seine Frau erleben immer wieder aufs Neue, wie schnell die Kinder sich zum Guten entwickeln. Sie trauen jedem Kind, das sie aufnehmen, diese Lebensenergie zu. Egal, was sie hinter sich haben und in die neue Umgebung mitbringen. Die Kin-der wollen wachsen, geistig und körperlich. Wer sie fördert und fordern will, sollte ihre Selbstheilungskräfte stärken. 

Der Lebenshunger dieser Kinder verändert auch die eigene Sicht auf die Welt und schenkt Hoffnung. Als ehemaliger Polizist hat Gerhard bei vielen Einsätzen miterlebt, unter welchen Bedingungen manche Kinder groß werden müssen. In viele traurige Kinderaugen hat er dabei geschaut. Damit wollte er sich nicht abfinden und hatte eine Idee.  Nach seiner Pensionierung wollte er sich um solche benachteiligten Kinder kümmern. Denn was diesen Kindern widerfährt, findet er zutiefst ungerecht: 

"Das ist mir immer wieder passiert, dass ich bei Konfrontationen mit Eltern Kinder dabei hatte, wo ich sage: Die stehen einfach nur auf der verkehrten Seite. Die haben nicht das große Glück, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, sondern die stehen tatsächlich auf der Schattenseite. Sie selbst können nichts dafür."

Kinder sind nicht nur gefährdet durch Vernachlässigung oder Missbrauch. In anderen Ländern sind sie betroffen von Krieg und Terror, wie Erwachsene auch. Wie kann man sie dann schützen und ihnen die Sicherheit geben, die sie für ein Leben ohne Zukunftsangst brauchen?  

Ein Beispiel dafür ist das Kinderhaus im israelischen Kibbuz Ruchama, nahe der Grenze zu Gaza. In Ruchama finden 250 Familien aus dem zerstörten Nachbarkibbuz Kfar Aza eine neue Bleibe. Dieser wurde am 7. Oktober 2023 zerstört. Nur mit großer Mühe und Unterstützung von außen ist es möglich, den vielen Menschen eine neue Bleibe zu schaffen. 

Vor allem die traumatisierten Kinder brauchen besondere Bedingungen, um ihrer Angst nicht ausgeliefert zu sein. Im Kinderhaus sollen sie erleben: Die Gefahr ist vorbei. Ich bin jetzt in Sicherheit mit meiner Familie. Wir leben wieder in einer großen Gemeinschaft, die mich und uns stützt. 

Renate ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in Berlin und hat das Kinderhaus in Ruchama besucht. Es muss dringend renoviert werden. Zu diesem Zweck hat ihr Chor ein Benefizkonzert gegeben. Diese Spende hat Renate persönlich überbracht und da-mit ein Zeichen gesetzt: Ihr seid nicht allein mit eurer Not. Auch Menschen nehmen Anteil, die tausende Kilometer entfernt in friedlichen Verhältnissen leben. 

"Ich bin Choristin im Berliner Shalomchor, und wir haben ein Benefizkonzert gegeben für das Ruhama Kinderhaus. Meine Idee war: Geld ist das eine, aber persönliche Begegnung und Beziehung das andere."

Genau das brauchen die Kinder, um sich wieder sicher zu fühlen: eine tragfähige Beziehung. Wenn sie es schaffen, eine solche Beziehung wieder einzugehen, ist schon viel gewonnen. Eine der Erzieherinnen hat deshalb gelernt, therapeutische Puppen im Spiel mit den Kindern einzusetzen. Das sind Handpuppen oder auch größere Puppen, die in besonderer Weise Gefühle ausdrücken können. Das Kind lässt die Puppe die eigenen Stimmungen spielen. Trauer, Angst, Sehnsucht nach Geborgenheit, Freude bekommen durch die Puppe ein Gesicht. Das erleichtert es den Kindern zu kommunizieren, was sie beschäftigt. 

Renate hat einen Spiegel im Flur des Kinderhauses fotografiert, der eine besondere Inschrift trägt: "Mirror, Mirror at the wall, there is a leader in us all." - "Spieglein, Spieglein an der Wand, es gibt einen Lotsen in uns allen."

Wenn die in ihrer Seele verletzten Kinder in die Spiegel schauen, können sie sich selbst in den Blick nehmen. Und zwar mit einer Botschaft: In jedem von ihnen wohnt die Kraft, den Weg ins Leben zu finden. Eines Tages wird es wieder möglich sein, ohne Angst in die Zukunft zu schauen. 

Ja, die Erzieherinnen lassen sich viel einfallen, damit die unsichtbaren Wunden heilen können. Aber auch umgekehrt ist es so. Die Kinder geben dem Team im Kinderhaus viel, vor allem Kraft. Und nicht nur dem Team, wie Renate berichtet: 

"Es gibt eine Familie, eine Mutter mit zwei Kindern, der ich begegnet bin. Die habe ich gefragt, wie sie sich fühlt, weil sie aus Kfar Aza kam. Und da sagte sie: Wenn wir im Kinderhaus sind und die Kinder spielen und den Lärm hören, dann wissen wir, dass Leben ist, ein gesundes Leben."

Nur wenige Kilometer von Ruchama entfernt liegt der Gazastreifen. Wann und wie Hilfe für die Kinder dort möglich sein wird, ist ungewiss. Denn solange der Krieg tobt, ist Überleben das Wichtigste. Aber eines ist sicher: Nach Kriegsende brauchen diese Kin-der nicht nur Institutionen, sondern vor allem engagierte Menschen wie Gerhard, Renate oder die Erzieherinnen von Ruhama. Menschen, die die Not der Kinder sehen und dann über sich selbst hinauswachsen. Damit die körperlichen und seelischen Wunden vernarben können.

Kinder und Säuglinge rufen nicht nur den Wunsch hervor, sie zu beschützen. Sie bewirken mehr. Sie verkörpern die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst und wecken so neue Hoffnung. Sie sind das Leben, das sich entfalten will, das jede Möglichkeit nutzt zu wachsen und dem Lebensfeindlichen dabei trotzt. Für uns Erwachsene sind sie deshalb wie ein Boll-werk gegen die Erfahrung von Sinnlosigkeit. 

Das erlebt auch der Krisenpflegevater Gerhard immer wieder. Er weiß: Er kann nicht alle Kinder in Not retten. Aber er kann das Seine dazu tun, und das macht ihm Freude. Manchmal ist es so, als ob der Himmel ein Stück näher rückt. Wie an diesem einen Tag, als sein einst hungerkrankes Pflegekind bei einem Waldspaziergang plötzlich dicke Äste hinter sich herzog.

"Also gefühlsmäßig explodiert man einfach, wenn man merkt, dass man ja diesem Kind so viel Lebensfreude geschenkt hat, so viele Möglichkeiten, sein Leben endlich einmal so zu gestalten, wie es ihm gefällt. Als er da stand und sagte: ‚So viel Kraft hatte ich noch nie!‘ Dieses Strahlen im Gesicht, das er dabei hatte!" 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Rosenstolz: Ich bin ich 
2. Rosenstolz: Liebe ist alles
3. Rosenstolz: Gib uns die Sonne