Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der sowjetischen Roten Armee befreit, vor 78 Jahren also. Überlebende der Shoah kämpfen bis heute mit den Erinnerungen. Worte reichen nicht aus, um das Grauen zu beschreiben. Das macht die Erinnerung so schwer. „Ich erinnere mich und wenn ich sagen soll, woran ich mich erinnere, dann zittere ich“, sagte der Überlebende und Friedensnobelpreisträger Eli Wiesel in seiner Gedenkrede im Bundestag im Jahre 2000.
Warum ist Erinnerung trotzdem notwendig? In eine Wand in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist ein Zitat eines chassidischen Meisters eingraviert: „Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.“
Erinnerungen weitergeben
Ihre Erinnerungen an die junge Generation weiter zu geben, hat sich das Ehepaar Petra und Franz Michalski zur Lebensaufgabe gemacht. Sie besuchen Schulklassen und erzählen die Geschichte von Franz, der als Zehnjähriger mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder untergetaucht ist. Franz und Petra Michalski erzählen vor allem von den „stillen Helden“, die mit ihrem Mut und ihrer Selbstlosigkeit zur Rettung der vierköpfigen Familie beigetragen haben. Wie zum Beispiel der Polizist, der rechtzeitig vor der Abholung durch die Gestapo gewarnt hat, oder das mutige Kindermädchen, das mit ihrer Familie Franz und seinen kleinen Bruder in Obhut nahm. Es gab verschwiegene Hoteliers, als die vierköpfige Familie Unterschlupf suchte oder eine selbstlose Freundin, die ihr Hotelzimmer über viele Wochen mit ihnen teilte. Dies sind nur einige der Helfer, die mit ihren kleinen und großen Taten Rettung möglich gemacht haben. Trotz aller Unterstützung war das Überleben schwer. Einmal kam der Vater in Haft und blieb über Tage aus. Seine Frau entschloss sich in ihrer Verzweiflung, zusammen mit ihrem jüngsten Sohn in den Tod zu gehen. Der zehnjährige Franz hat Mutter und Bruder nur knapp retten können. Und wie durch ein Wunder kehrte auch der Vater zurück.
„Stille Helden“
Erst mit 60 Jahren hat Franz Michalski sich überwunden, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Seine Nichte hatte ihn darum gebeten. Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wurde auf Familie Michalski aufmerksam. Inzwischen sind Exponate zu ihrer Geschichte in der Gedenkstätte „Stille Helden“ ausgestellt und Schulen bitten um ihren Besuch. Oft erhalten die beiden danach Briefe und Bilder von den Kindern. Ein Mädchen schreibt: „Ich musste weinen, als Sie das erzählt haben. Aber Sie nicht - wie geht das?“ Die Antwort ähnelt dem, was Elis Wiesel vor dem Bundestag sagte: „Ich muss auch weinen, aber ich habe gelernt zu weinen, ohne dass Ihr es seht, damit ich Euch die Geschichte erzählen kann.“
Das Paar ist überrascht, was das Erzählen bei den Kindern bewirkt. „Ich habe mir vor allem vorgenommen, allen Menschen mit gleichem Wert zu betrachten und jedem zu helfen, wo man kann“, schreibt ein 17jähriger; und ein 12jähriger Junge: „Ich habe lange mit meinem Vater gesprochen. Wenn Sie wieder einmal flüchten müssen, kommen Sie zu uns: Wir werden Sie in unserem Haus verstecken und auch ernähren.“ Einmal werden sie von Schülern auf der Straße angesprochen: „Nach Ihrem Besuch wollten wir etwas tun und jetzt sind wir beim Roten Kreuz und helfen ehrenamtlich.“
Soviel Menschlichkeit tut gut und gibt den beiden die Kraft, wieder und wieder ihre Erinnerungen weiter zu geben. Denn die beiden sind beseelt von einem Wunsch: „Ihr könnt nur dann etwas tun, wenn Ihr wisst, wie es damals war“, sagen sie den Kindern.
Wissen und Mitgefühl
Die nachfolgenden Generationen sollen die Zeichen der Zeit erkennen und mutig sich gegen Lebensfeindliches wehren können. Denn die Lüge von Menschenleben ohne Wert und von jüdischen Weltverschwörungen tritt in immer neuen Gewändern auf.
Seit drei Jahren besucht das Ehepaar auch Orientierungsklassen für junge Geflüchtete, die bereits ein Jahr in Deutschland sind. Meist werden sie sehr still, wenn sie die Geschichte von Untertauchen, Flucht und Rettung hören. Aber wenn Petra Michalski sie fragt: „Was habt Ihr in Euren Ländern über Juden bisher gelernt?“ fangen manche an zu weinen.
Erinnern – das ist das Geheimnis der Erlösung. Erinnerungen, die wir mit anderen teilen, können Mitgefühl bewirken. Ja, das Wissen um historische Zusammenhänge mag vor neuer Manipulation schützen, aber die Fähigkeit zum Mitgefühl schützt davor, zur passiven Zuschauerin zu werden oder zum Täter.
Eli Wiesel beendet sein Gedenken an die Befreiung von Auschwitz mit dem Zitat eines großen chassidischen Meisters, Asasow von Galizien: „Meine Freunde, wollt ihr den Funken finden? Sucht ihn in der Asche.“ Dieser Rabbi Asasow von Galizien war vor allem für sein Mitgefühl bekannt.
Marianne Ludwig ist evangelische Polizeiseelsorgerin bei der Landespolizei Berlin und beim Zoll in Berlin und Brandenburg. Sie studierte ev. Theologie, Judaistik und Erziehungswissenschaften in Berlin, Göttingen und Jerusalem.