Evangelische Kirche in Klosterneuburg
Reformation und Bildung
Gottesdienst aus der evangelischen Kirche in Klosterneuburg (Österreich)
31.10.2015 09:05

Liebe Gemeinde, werte Hörerinnen und Hörer!

 

Nicolaus von Verdun war ein lothringischer Goldschmied. Er hat hier in Klosterneuburg im 12. Jahrhundert ein geniales Bildungsprogramm erschaffen. Der Künstler verkleidete die Kanzel der Kirche des Augustiner Chorherrenstiftes mit 45 Emailtafeln, die Szenen aus dem ersten und zweiten Testament darstellen.

Im Mittelalter wurde angenommen, dass bestimmte Szenen aus dem Leben Jesu ihre genaue Entsprechung in bestimmten Ereignissen des ersten Testaments finden. Um dies zu verdeutlichen, wurden von Nicolaus von Verdun immer drei Tafeln zusammengestellt: Eine Szene aus dem Leben Jesu und zwei Ereignissen aus dem Alten Testament. So schaut man in dieser Schule des Sehens neben der Geburt Christi gleichzeitig jene von Isaak und Samson.

Die Tafeln des Verduner Altars machen die Ähnlichkeiten der biblischen Geschehnisse sichtbar. So muss man gar nicht sonderlich bibelkundig sein, gar nicht viel wissen und sieht doch, was wichtig ist!

Bildung durch das Bild – so kann man das Programm des Verduner Altar abkürzen. Das Bild ist hier ein Ort, wo Zeit und Raum außer Kraft gesetzt sind um eine tiefere Wirklichkeit sichtbar zu machen. Für die Theologen des Mittelalters vermittelt so das Bild gültige Aussagen.

Für Menschen heute ist die Vorstellung einer solchen Wirklichkeit fremd geworden. Und doch gibt es Beispiele dafür im Alltag: bei Verkehrszeichen etwa. Noch immer verweist der schaufelnde Arbeiter auf eine Baustelle – obwohl auf modernen Baustellen vor lauter Maschinen kaum ein Mensch zu sehen ist.

Vor mehr als 800 Jahren hat Nicolaus von Verdun mit seinen Emailtafeln an der Kanzel ein damals neues Werkzeug genutzt – und ermöglicht mit seinen Bildern eine geschaute Bildung.

 

Die evangelischen Kirchen in Österreich gestalten auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 das heurige Jahr mit dem Schwerpunkt Bildung.

Evangelische feiern heute den Reformationstag.

Reformation und Bildung sind ein unzertrennliches Paar, zumindest in den engeren Begriffen: Kirchenreform und Bildungsreform.

Warum stehen die beiden einander so nah?

 

 

Die Reformation brachte ein neues Glaubenverständnis. Als evangelischer Christ / als reformierte Christin konnte man sich nicht mehr allein auf die Lehren der Kirche berufen;

Als evangelischer Christ konnte man nicht mehr damit genug haben, die Tradition kirchlicher Lehre mit Riten nachzuvollziehen.

Was hat sich verändert?

Der reformatorische Glaube setzt eigenes Verstehen voraus und eine Vertrautheit mit den Inhalten des Evangeliums. Er spricht dem Menschen die Fähigkeit zu, selbst in religiösen Fragen urteilen zu können.

Aber wozu?

Nicht für die eigene Seligkeit, sondern dazu, um Mitverantwortung in Kirche und Gesellschaft zu tragen.

Dieses neue Glaubensverständnis stellt eine hohe Anforderung an Bildung: schreiben, lesen, verstehen. Für alle!

So ging von der Reformation auch eine Bildungsreform aus, die europaweit einen Schub ausgelöst hat und bis heute Früchte trägt.

Mit Recht sehen daher wir Evangelische neben Glauben und Diakonie die Bildung als ein Schlüsselthema für ein Nachdenken über das Reformationsjubiläum 2017. Diese Linie der Reformation, die die Bildung hochschätzt, nehmen wir ernst. Wir gestalten aus diesem Erbe die Gesellschaft mit.

 

Motto dieses Bildungsjahres in Österreich ist ein Spruch aus Psalm 31:

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“

Zunächst lesen wir im Psalm diesen Satz als ein hoffnungsfrohes Bekenntnis, das den äußeren Umständen widerspricht. Denn im Psalm schreit einer oder eine stellvertretend nach Rettung. Nach Sicherheit. Nach Stabilität.

Und findet: einen weiten Raum. Befreiung aus der Enge.

Im hebräischen Originaltext genügt ein einziges Wort, um den zweiteiligen Begriff vom „weiten Raum“, wie es in unserer Sprache heißt, wiederzugeben.

Das ist erstaunlich. Es ist so, als könnte sich der betende Mensch den von Gott geschaffenen Raum gar nicht anders vorstellen als weit und offen.

Der weite Raum wird zum Gegenbild zu Enge und Angst, Ein Raum zum Aufatmen und gestalten. Ein Raum zum Entfalten, für neue Wege ohne Furcht.

So will der biblische Gott aus bedrängter Situation befreien.

Ob das die aus Kriegsnot flüchtenden Menschen ebenso sehen? Das muss ich in diesen Tagen kritisch nachfragen; ob ihr Raum nicht zu weit, zu offen ist? Ob wir mithelfen können, für sie sichere freie Räume zu schaffen!?

Ich kenne viele Pfarrgemeinden, die ihre Räume öffnen und Hilfe bieten: ein vorurteilsfreies Kennen lernen beim Deutschlernen, die Verkehrszeichen deuten lernen, Fahrrad fahren üben. So wird der allzu große Raum vertrauter und sicherer.

 

 

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Wenn wir dieses Bibelwort in unserem „Jahr der Bildung“ hören, was kann es uns mitgeben?

Von Bildung reden, heißt von der Zukunft sprechen, davon, welche Zukunft uns vor Augen steht. Zukunft von Einzelpersonen, aber auch eines ganzen Landes.

Eltern wird das unmittelbar deutlich, wenn sie für ihre Kinder und Jugendlichen entscheiden müssen, welche Schule sie nächstes Jahr besuchen sollen.

Sie wissen dabei auch um die Grenze einer solchen Entscheidung: was aus diesem Kind, diesem Mensch „wird“, hängt nicht alleine von der getroffenen Schulwahl ab. Da spielen persönliche Voraussetzungen, Anlagen, Begabungen, ja: auch Vermögensverhältnisse und gesellschaftliche Erfordernisse große Rollen.

 

Das ist nicht zu trennen von der ganz grundlegenden Frage: was soll denn aus dem Menschen werden?

 

Die Beantwortung dieser Frage führt auch in die religiöse Dimension.

Reformation und Bildung gehören zusammen. Religion braucht Bildung, wie auch Bildung ein Lernen braucht, das den inneren Menschen betrifft: sein Herz, sein Gewissen, seinen Glauben. Denn der ganze Prozess, den wir Bildung nennen, ist auch das, was wir nicht gewählt und gemacht haben, nicht mit Nachhilfestunden gekauft haben.

Bildung ist auch das, was wir nicht in der Schule gelernt haben,

sondern was uns die Großmutter beim Einschlafen vorgesungen hat,

was uns das Leben gelehrt hat,

was uns prägt und dauerhaft bestimmt und leitet.

 

Da greife ich gern auf das deutsche Wort „Bildung“ zurück, das es in anderen Sprachen so nicht gibt. In diesem Wort aus der religiösen Mystik des Spätmittelalters steckt die Bestimmung des Menschen, die Antwort auf die Frage nach seiner Zukunft: ein Bild Gottes werden, neu werden aus dem Verhältnis zu Gott.

„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (Gen1,26) lesen wir im Schöpfungslied und beim Apostel Paulus: „wir werden verklärt in sein Bild“ (2. Kor 3,18). Die Rede ist von inneren Verwandlungen. Das ist kein „pädagogischer Prozess“ und auch nicht die Beschreibung einer Bekehrung. Innere Verwandlung meint ein Handeln Gottes an den Menschen.

Das hat Konsequenzen:

Gottesebenbildlichkeit gilt nicht für ganz bestimmte, ausgesuchte Personen, sondern für alle. Bildung kann keine Angelegenheit von Eliten sein. Es ist Recht jedes einzelnen Menschen. Werkzeuge der Bildung gehören für alle – ich betone: für alle – bereitgestellt. Es kann nicht sein, dass in Österreich jedes Jahr tausende junge Menschen ohne wirklichen Schulabschluss in ihr Leben entlassen werden – ohne weitere Maßnahmen. Es kann nicht sein, dass immer noch die soziale Stellung die Höhe der Bildung definiert.

 

Bei Bildung geht es nicht allein um Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um den ganzen inneren Menschen: seine Einstellungen, Erfahrungen, Gefühle, seine Lebensorientierung und Werthaltungen.

Eine Konsequenz spüren wir:

diese Form von Bildung ist nie abgeschlossen. Die Ausrichtung auf Gott verlangt nach einem lebenslangen Lernprozess.

Er bewahrt uns davor, anderes zu wichtig zu nehmen und daran zugrunde zu gehen. Die Begrenztheit allzu innerweltlichen Denkens und Handelns wird uns durch den Horizont auf Gott hin deutlich vor Augen geführt.

Zum Menschsein gehört mehr als Haus und Kinder, Erfolg, Karriere oder einfach nur das Überleben.

Der „weite Raum“, auf den wir gestellt sind, schenkt uns einen weiten Horizont, der nicht einzuengen ist,

nicht durch die immense Steigerung des Leistungsprinzips,

nicht durch einengende wirtschaftliche „Sachzwänge“, auch nicht durch die Versuche eigener Vervollkommnung.

 

Um mich im weiten Raum orientieren zu können, brauche ich eine Position. Der Glaube, die Ausrichtung auf Gott kann eine solche Position sein. Mit guten Aussichten; wie von einem Leuchtturm, mit Blick weiter hinter den Horizont.

Friedrich Fröbel, Pfarrersohn und Erfinder der Kindergärten, malt Bildung mit Worten nach – und mit der Kraft, das Gesicht dieser Erde zu reformieren:

„Menschen bilden, die mit den Füßen in Gottes Erde eingewurzelt sind, deren Köpfe im Himmel schauend lesen und deren Herz beides vereint.“

 

Amen