Morgenandacht
Traumata
10.03.2016 05:35

Neulich musste ich ins Krankenhaus. Die Linse meines linken Auges hatte sich eingetrübt und musste ersetzt werden. „Kann passieren“ meinte der Arzt, als ich ihm von dem Augenunfall erzählte, den ich als Kind auf diesem Auge einmal hatte. „Das ist Routine“ fügte er hinzu und vereinbarte einen Termin für eine Voruntersuchung und auch gleich einen Operationstermin, ambulant. „Da spüren Sie gar nichts und können eine Woche später schon wieder arbeiten“. Ich ließ mir alles erklären, war beruhigt und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

 

Die Voruntersuchung eine Zeit später verlief reibungslos, der Arzt war zufrieden und die Operation konnte kommen. Am vereinbarten Tag fand ich mich in der Klinik ein, scherzte ein wenig mit der Sprechstundenhilfe, deren Sohn ich vor Jahren konfirmiert hatte, und bekam eine erste Spritze. Zur Beruhigung. Doch auf das, was dann kann, war ich nicht vorbereitet.

 

Denn mit der ersten OP-Schwester, die sich um mich etwas schläfrigen Patienten kümmerte, waren all’ die Bilder aus meiner Kindheit wieder da. Wie ich mit blutendem Auge vom Spielplatz nach Hause gerannt war. Wie mein Vater bleich wurde, als er mich sah. Die Autofahrt mit meiner kleinen Schwester auf dem Rücksitz ins Krankenhaus. Das Blut auf dem Taschentuch, mit dem ich mein schmerzendes Auge zuhielt. Die hilflosen Schwestern in der Notaufnahme, die uns weiter schickten in die Augenklinik quer durch die Stadt. Diese schier endlose Fahrt, dann die Operation. Und dann erst einmal blind wieder aufzuwachen, denn das zweite Auge hatte man zur Schonung zugeklebt. Alles war plötzlich wieder da: die Gerüche, die Geräusche, dass helle Licht der OP-Lampe, die Stimmen, die beruhigen wollten und doch bei mir fast Panik auslösten. Ein Trauma meiner Kindheit, das doch schon über 30 Jahre zurück lag … es war wieder präsent.

 

In den Tagen nach der Operation jetzt musste ich viel liegen. Alles war gut gegangen. Ich sah wieder exzellent. Doch an Arbeiten war entgegen der Prognose des Arztes nicht zu denken und ich hatte Zeit zum Nachdenken. Wie ist das bei Menschen, die in ihrem Leben etwas ganz Schlimmes erlebt haben? Kommt da plötzlich auch wieder alles hoch? Frauen, die vergewaltigt wurden. Kinder, die die Ermordung ihrer Eltern haben ansehen müssen. Männer, die in der Folter fast ertränkt wurden. Es wird auch da so sein, dass ein Geruch alles wieder wach ruft, ein Geräusch direkt ins Unterbewusste geht. Dass ein Gegenstand oder eine Situation plötzlich Erinnerungen auslöst – und alles ist mit einem Mal wieder da. Bedrohlich. Unaufhaltsam. Leben zerstörend.

 

„Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan,“ sagte Jesus und mir wird klar, dass es viele Geschwister Jesu sind, die da unter uns leben. Die Entsetzliches erlebt haben. Es wurde ihnen angetan von Menschen, Nachbarn, Soldaten. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, sagten die alten Römer – und sagte später dann der Philosoph Thomas Hobbes. In meiner vergleichsweise harmlosen Situation da im Krankenbett hat mir geholfen, was ich in meiner Seelsorgeausbildung gelernt habe. Die eigenen Ängste wahrnehmen und kennen. Sie auftauchen lassen und ihnen möglichst trotzdem nicht gleich das ganze Ich überlassen. Versuchen, sie immer auch zu betrachten. Wie von außen. Traumatherapeuten, die mit Kindern aus Kriegsgebieten arbeiten sagen: „Krieg kann niemand rückgängig machen. Seine Folgen aber schon.“

 

Wie wichtig dieses therapeutische Arbeiten ist, habe ich erst so richtig verstanden, als mir neulich in meiner Erinnerung der Kindheitsunfall wieder ganz nah auf den Leib rückte. Denn ich hatte ja gemeint, er sei schon längst verarbeitet. Nicht mehr da. Und war erschrocken, wie leicht es sich dann doch wachrufen ließ. Und noch etwas habe ich gelernt: Wie entscheidend es ist, alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass Menschen nicht traumatisiert werden. Denn die Wunden heilen nur langsam. Und manchmal brechen sie unerwartet auf. Gut, wenn sie dann nicht das ganze Ich einnehmen!

Morgenandacht