"Gewonnen hat der mit dem größten Grabstein". Dieses Graffiti sehe ich jeden morgen, wenn ich zur Arbeit gehe. Jemand hat es auf den Bahnsteig gesprüht, direkt über die Gleise. Lang ist der Schriftzug und will man ihn lesen, muss man ihn entlang gehen: "Gewonnen hat der" … ah …mit dem größten Grabstein".
An jedem Morgen wirkt der Satz auf mich wie eine Mahnung, auch an diesem Tag nicht das eigentliche im Leben zu versäumen. Denn ich finde es nicht erstrebenswert, mich am Ende wieder zu finden unter dem größten Grabstein. Doch frühmorgens auf den Weg in die Arbeit ist der Kopf meist voll mit Aufgaben: Besprechungen und Termine, wer unbedingt noch angerufen werden will. Oder einfach nur das Tagwerk, das wartet. Den Tag lang arbeiten und werkeln und abends wieder in die Bahn steigen. Oft in der Dämmerung erst nach Hause. Doch das ist nicht das Leben. Als eine Palliativhelferin gefragt wird, was sie von ihren Patienten gelernt habe, sagt sie: Sich jeden Tag einen Wunsch erfüllen. Mehr Zeit mit Freunden verbringen anstatt mit Aufgaben. Beziehungen pflegen. Viel draußen sein und die Natur genießen. … Die Menschen am Ende ihres Lebens haben die junge Frau gelehrt, bewusster zu leben. Denn die merken viel stärker, was ihnen gut tut und was sie noch tun wollen in der Zeit, die ihnen bleibt. Wesentliches. Schönes. Etwas mit Mehrwert.
Ich finde das einen schönen Gedanken. Er geht im Alltagsgeschäft oft verloren. Denn er ist unproduktiv und wird deswegen gerne verdrängt. In einer Welt, in der zählt, etwas zu schaffen; in der derjenige mehr zählt, der "es geschafft" hat. "Gewonnen hat der mit dem größten Grabstein.".
Doch vom Ende her gedacht ist das verrückt. Da ist viel versäumtes Leben, viel Verschwendung. Wenn ich am Ende meines Lebens zurückschauen darf, was und wie ich gelebt habe, wird es nicht der größte Grabstein sein, der mich glücklich macht.
Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? So übersetzt Martin Luther einen Satz Jesu aus Matthäus 16. Ein Satz im Konjunktiv, einer, der zum Nachdenken anregt. Was hilft es dir? Bringt dich das weiter? Was gewinnst du und was geht verloren? Große Grabsteine sind große Grabsteine. Mehr nicht. Keine Erfüllung und kein Erleben. Nichts, was sich genießen lässt und für schöne Erinnerung sorgt.
"Gewonnen hat der mit dem größten Grabstein." Das Graffiti am Bahnsteig erinnert mich jeden Morgen daran, etwas Schönes aber vielleicht Sinnloses zu tun. Das Gesicht in die Sonne halten, wenn sie scheint. Dem Regen lauschen, wie er in die Pfützen platscht. Sich vom Wind ein bisschen durchpusten und treiben lassen. Menschen anlächeln und ihnen helfen, wenn sie mit einem Stadtplan in der Gegend herumstehen. Eine der vielen kleinen Gelegenheiten zu nutzen, die einem Tag für Tag geschenkt werden und das Leben bunt und schön machen. Und wertvoll. Das ist eine andere Lebenseinstellung. Aber – so glaube ich – eine, die Gott gefällt und etwas von dem zeigt, was wir im Leben sein sollen: erlöst und frei.
Am Ende unseres Lebens werden wir einmal gefragt werden, was wir aus unserem Leben gemacht haben. Was wir der Welt hinterlassen? Große Grabsteine oder gelebtes Leben. Erasmus von Rotterdam holt diesen Gedanken ins Jetzt: "Am Ende stellt sich die Frage: Was hast du aus deinem Leben gemacht? Was du dann wünschst, getan zu haben, das tue jetzt."
Das ist mein Lebenssinn. Mein Leben zu füllen mit Schönem und manchmal Sinnfreiem. Den größten Grabstein weit und breit werde ich sicher nicht haben. Eher vielleicht ein Holzkreuz mit Bild und Namen. Das genügt. Hauptsache, vorher war eine Menge Leben!