Wort zum Tage
Lob der Vergänglichkeit
07.11.2016 05:23

Als der Schriftsteller Thomas Mann einmal gefragt wurde, woran er glaube und was er am höchsten stelle, gab er die Antwort: „Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage, woran ich glaube oder was ich am höchsten stelle, antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit, – und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe.“ (1)

 

Beruht nicht tatsächlich der Reiz, ja die ganze Faszination des Lebens gerade darauf, dass es begrenzt ist? Warum sollte ich heute schon tun, wozu auch später, (sagen wir) in hundert Jahren, noch Zeit wäre? Es ist also die Vergänglichkeit, die dem Leben Entscheidungscharakter gibt und allem, was wir tun, seinen Wert. Sie ist ihrem Wesen verbunden mit allem Schöpferischen und Tätigen.

 

Wenn es die Vergänglichkeit ist, die allem Leben Zeit schafft, wie Thomas Mann sagt, dann stellt sich die Frage, was das ist: Zeit? Und wem sie eigentlich gehört? Eine Antwort auf diese Frage gab mir eine Uhr im Turm einer alten Dorfkirche im Landkreis Bremervörde. Das Besondere dieser Turmuhr war – ihr Zifferblatt hatte statt der Zahlen zwölf Buchstaben. Die ergeben den Satz: ZEIT IST GNADE. „Zeit“ hat vier – „ist“ drei und „Gnade“ fünf Buchstaben – macht zusammen zwölf.

Wer also auf diese Uhr schaut, wird daran erinnert: „Zeit“ ist ein Geschenk, eine wunderbare Gabe. Sie gehört uns nicht. Sie ist uns Menschen immer nur geliehen. Zeit ist eine Leihgabe Gottes. Mit anderen Worten: Nicht in unseren Händen, sondern in Gottes Händen steht unsere Lebens-Zeit. Das hat der Psalmbeter erkannt, wenn er sagt: „Meine Zeit steht in deinen Händen, Gott.“ (Psalm 31,16) Was das bedeutet, hat der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch in einem Lied so zusammengefasst:

 

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.

Gott nahm in seine Hände meine Zeit,

mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,

mein Triumphieren und Verzagen,

das Elend und die Zärtlichkeit.

 

Was macht, das ich so furchtlos bin

an vielen dunklen Tagen?

Es kommt ein Geist in meinen Sinn,

will mich durchs Leben tragen. (2)

 

 

(1) Thomas Mann, Essays Band 6, Meine Zeit 1945-1955, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, S. Fischer Verlag 1997, S. 219

(2) Hanns Dieter Hüsch, aus: Der andere Advent 1999 (26. Dezember)