Weinen vor aller Augen gilt als peinlich. In der Bibel dagegen gibt es eine bemerkenswerte Wertschätzung für Tränen.
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Unter meinen Habseligkeiten befindet sich eine hübsche Schachtel, in der ich Taschentücher sammle. Genauer gesagt: vollgeweinte Papiertaschentücher. Man kann sagen: Ich habe ein Talent für Tränen. Eine Begabung zum Weinen. Bin nah am Wasser gebaut.
Bis vor Kurzem war mir das allerdings eher unangenehm, eine peinliche Schwäche. Es brauchte Jahre, diverse Krisen und mehr als einen Anstoß von außen, um die Perspektive zu wechseln. Inzwischen versuche ich, meinen Tränen mit mehr Achtung zu begegnen. Gerade denen, die ich alleine weine. Die Schachtel hilft dabei. Das Glattziehen und Falten der Taschentücher. Sie kommen nicht zerknüllt in den Müll. Ich hebe sie auf. Es ist eine Geste des Respekts und des Trostes.
Sammle meine Tränen in deinen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie, steht in der Bibel in einem Psalm. Es gibt eine bemerkenswerte Wertschätzung des Weinens auch in biblischen Texten. Menschen weinen. Männer und Frauen. Sie klagen, sie zeigen ihren Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Scham, ihre Schwäche. Petrus weint. Maria weint. Jesus weint. Tränen sind kein Grund zur Verlegenheit. Sie sind menschlich. Und der G’tt der Bibel sammelt sie.
Wo schaffen wir Orte für Tränen? Für das Leiden an der Welt? Tränen im öffentlichen Raum sind ja nicht wirklich erwünscht - Beerdigungen und Fußballspiele einmal ausgenommen. Aber eine Kultur des öffentlichen Weinens pflegen wir nicht. Auch keine Kultur des Trostes. Sachlich bleiben und den Schmerz raushalten ist die Strategie der Wahl. Die Angst bewältigen. Den Zorn maskieren. Durch Heiterkeit oder Gelassenheit ersetzen. Wer weint, hat schon verloren. Wer weint, soll zuhause bleiben.
Sammle meine Tränen in deinen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie, heißt die Bitte an G‘tt im Psalm. Das holt den weinenden Menschen aus der Isolation.
Der niederländische Fotograf Maurice Mikkers hat Tränen gesammelt: Tränen des Schmerzes, Tränen der Trauer, Tränen der Rührung, auch Tränen beim Essen einer Chilischote. Unter dem Mikroskop, in hundertfacher Vergrößerung fotografiert, sieht jede Träne anders aus, bildet Strukturen und Muster, hat ihre eigene Schönheit, ist ein eigener Kosmos.
Die Tränen in ihrer Schönheit schätzen zu lernen, ist ein Schritt auf dem Weg des Trostes. Gerade war Pfingsten – das Fest des Heiligen Geistes. Den nennt Jesus den "Tröster". Insofern bietet die Pfingstzeit jetzt einen guten Anlass, damit zu beginnen, das Weinen und die Tränen zu schätzen. Auch so kommt der Trost G’ttes zur Welt. Und zwar in jeder und jedem einzelnen von uns.
Es gilt das gesprochene Wort.
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