Eine Landstraße vor Berlin. Fahrradfahrer sind unterwegs. Hobbysportler. Über ihnen das Maigrün der Linden. Hin und wieder das Laubdach einer Kastanie. Auf der linken Seite des Asphalts schreitet ein Wanderer. Praller Rucksack. Zu viel Gepäck für einen Handwerkergesellen - aber der große Hut, der stimmt fast. Auch der Wanderstock. Ich klingele, grüße und bin eigentlich schon vorbei. Neugier lässt mich umdrehen und fragen, wohin der Mann, so ungewöhnlich mit Gepäck beladen, unterwegs ist. Ich glaube, nicht richtig zu hören. Nach Spanien. Nach Santiago de Compostella. 2000 Kilometer zu Fuß. Er müsse diesen Weg gehen und dabei bis Ende September etwas klären. Für sich selbst und im Gespräch mit Jesus. Er habe eine schlimme Zeit hinter sich als Wohnungsloser. Seele und Körper seien noch voller Narben. Und der Kopf voller Fragen.
Von solchen Pilgern hatte ich schon gehört. Aber was dann folgt, ist mir nicht vertraut. Der Mann, höre ich, heißt Helge und erzählt, auf einem Stein am Straßenrand sitzend, von seinem Leben als Alkoholabhängiger. Es ist die Geschichte von einem, der aus einem normalen Leben tief gefallen und ganz weit unten angekommen ist. Jenseits des Vorstellbaren.
2009 bin ich obdachlos hier nach Berlin gekommen. Ich war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre auf der Straße und ich habe in Berlin Einrichtungen genutzt, Essensausgaben, Suppenküchen Notunterkünfte und habe geschlafen am großem Müggelsee. Tagsüber war ich unterwegs, um Pfandflaschen zu suchen, Zigarettenkippen aufzuheben, um den Tabak dort raus zu pulen, um mir Zigaretten drehen zu können, um so meinen Nikotinkonsum zu finanzieren. Also ich für mich als Helge - ich war schon ganz weit unten.
Also ich bin mit Menschen zusammen gewesen, die anderen Menschen nichts Gutes angetan haben. Auf der anderen Seite habe ich Menschen gesehen, mit denen ich am Abend noch gesprochen haben und am nächsten Morgen waren sie tot. Ich habe Menschen gesehen, die heroinabhängig waren und einen Druck haben mussten und denen ich geholfen habe, dass sie die Spritze setzen konnten
Helges Alkoholkonsum lag in dieser Zeit bei dreizehn Flaschen Bier pro Tag, zwei Litern Rotwein und zwei Päckchen "Zündkerzen". Das sind jene kleinen Fläschchen hochprozentiger Alkohol, die bei Partys oft so zum Spaß herumgereicht und vor dem Austrinken kräftig auf den Tisch geklopft werden.
Für Helge waren das keine Spaßmacher. Mit ihnen regulierte er binnen weniger Sekunden seinen Alkoholspiegel. Sank er unter 1,2 Promille, stellten sich sofort Entzugserscheinungen ein. Darum war er unterwegs als Flaschensammler - täglich quer durch Berlin
Auf diesem Wege habe ich mir dann leere Flaschen gesammelt, besonders gern natürlich die Plastikflaschen für 25 Cent. Wenn ich zwei davon gefunden habe, bin ich in den nächsten Supermarkt reingegangen und habe das gleich in eine Flasche Bier umgesetzt. Und wenn ich dann drauf war am Zittern, dann habe ich die Flasche gleich im Supermarkt getrunken und bin dann wieder los.
Etwa fünfzehntausend wohnungslose Menschen sind so wie Helge unterwegs in Berlin. Für sie ist jede Brücke der Hauptstadt eine Unterkunft. Ein Dach über dem Kopf. Eine Herberge zum Überleben. Längst sind diese Orte auch umkämpft. Entweder dulden Anwohner diese Art von Nachbarn nicht oder Behörden sehen in dieser Form des Wohnens einen Verstoß gegen Recht und Ordnung. Doch wer hungert, hat dafür wenig Verständnis - er lebt mit anderen Maßstäben. Auch gegenüber seinem Hunger.
Wenn zum Beispiel im Mülleimer ein weggeworfenes Paket mit Salami, also mit Essenssachen drinne waren zum Beispiel, dann habe ich gesagt: das würde ich nie essen. Aber irgendwann ist der Punkt zum Beispiel - wenn der Hunger so doll groß ist - dann hab ich's einfach rausgenommen und angeguckt und gesagt, wie lange kann das da wohl drin liegen, wer kann das wohl weggeworfen haben - und dann war das eine einmalige Überwindung. Und danach war das einfach automatisiert. Ich habe die Welt halt anders wahrgenommen.
Helges letzte Station eines jeden Tages war der Platz vor dem Bahnhof Zoo. Manchmal verdiente er dort einige Cent, wenn es ihm gelang, Autofahrer zu einem freien Parkplatz zu führen.
Doch zum Bahnhof Zoo gehört für die Wohnungslosen am späten Abend auch eine besondere Chance. Wenn in den Gaststätten die Küchen schließen, bringen Restaurantbesitzer unverkaufte Speisen hierher und verteilen sie gratis. Eines Tages hielt Helge nicht nur eine große Portion Spagetti Bolognese, sondern auch eine Einladungskarte zu einem festlichen Abendessen in einer Mehrzweckhalle in den Händen.
Was sich wie ein Glück anfühlt, erweist sich als Veranstaltung einer christlichen Baptistengemeinde. Helge, obwohl katholisch getauft, hält Kirche zu diesem Zeitpunkt für eine mehr als nur zweifelhafte Vereinigung.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einen Gott oder ein Wesen gibt, was mit mir selbst etwas zu tun hat. Und Religion und Kirche, so wie ich sie in meinem Leben kennen gelernt habe, dazu gehört Weihnachten auch Ostern oder wie auch immer, das ist für mich ganz klar gewesen, dass Religion eine kriminelle Organisation, so ein Art Mafia ist, die Menschen nutzen, um mit deren Ängsten Geld zu verdienen, um sie anzulocken, für sich auszunutzen. Also arme Menschen, die gefangen in Ängste sind, so wie ich auch einer gewesen bin, aber ich nicht gelockt werden konnte, so dachte ich eben halt, und mich daran nicht beteiligen möchte. Ich habe geglaubt, Kirche und Religion - das ist ganz klar eine kriminelle Organisation. Eine menschliche Einrichtung. Keine göttliche.
Eigentlich wollte Helge bereits am Eingang der Halle umkehren. Aber da stand nicht nur ein beleuchtetes großes Kreuz auf der Bühne, sondern auch eine festliche gedeckte Tafel mit duftenden Speisen.
Helge sagt sich: erst einmal essen - gehen kann ich ja später immer noch. Dem Gottesdienst folgt er nur, weil er Hunger hat. Er ist von den Worten, die er hört, nicht berührt. Als das letzte Lied verklingt, wird das Buffet eröffnet. Endlich. Dann geschieht etwas, was Helge nicht versteht und was seinem Leben einen Impuls geben wird, der alles bisher Gewesene verändert. Er ist neugierig, warum so viele seiner Tischnachbarn aufstehen und zum Kreuz gehen, dort stehen und schweigen. Plötzlich ist in Helge Neugier. Er will das Stehen am Kreuz auch einmal probieren.
Dann war das auf einmal ein Gefühl, wo ich nicht denken brauchte, einfach ein Zustand ein Raum, wo ich überhaupt nicht über irgendetwas nachdenken musste. Ich war total ruhig, ich war gelassen, war total entspannt. Und in diesem Gefühl, in dieser Entspanntheit - da war mir so, als würde ich ein Bild sehen, was daraus bestand, dass ich ein Auto sehe und eine Geschwindigkeit und eine Wand sehe. Und mir war klar, das Auto bin ich, die Geschwindigkeit ist mein Leben und die Wand ist das Ende davon. Das habe ich nicht gesehen, aber vom Gefühl. Mir wurde klar: ich bin obdachlos, ich bin in Berlin, du hast schon mal gearbeitet, gut Geld verdient, musst keine Pfandflaschen sammeln.
Und aus diesem Gefühl heraus und habe ich meinen Gedanken geschrien: was soll ich denn jetzt machen. Ganz laut geschrien in meinen Gedanken. Für niemanden hörbar natürlich. Und auf dieser gleichen Gedankenebene, so wie ich geschrien habe, dann kam zurück: zuerst Alkohol mehr trinken und keine Zigaretten mehr rauchen. Da war ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit tiefer Trauer, weil ich wusste ich bin drei Jahre unterwegs gewesen. Jeder Tag war für mich ein Kampf, um am Alkohol ranzukommen, damit ich überhaupt leben kann.
Ein Leben ohne Alkohol kann sich Helge zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen. Immer wieder versucht er, das Trinken aufzugeben. Schließlich glaubt er sich sicher zu sein: ich werde es nie schaffen. Und denkt: ich bin ohne jede Chance. Minutiös plant er einen Suizid, entscheidet sich für das Dach eines Hochhauses. An einem milden Sommerabend trinkt er noch mehr als sonst und verabschiedet sich in Gedanken von Freunden und von seiner Mutter. Er bittet sie um Verzeihung. Doch dann meint er, ihre Stimme zu hören, hält inne, zögert. Dann verlässt er das Dach, begibt sich zu einem Taxistand und bittet, in eine Klinik gebracht zu werden. Der Entzug und eine anschließende Therapie dauern zwei Jahre. Helge lebt in dieser Zeit in der Berliner Stadtmission. Und er hört vom Jakobsweg. Eine Frau gibt ihm ein Buch.
Helge, was du suchst und vorhast - das wäre doch was für doch was für dich. Und dann habe ich mich über den Jakobsweg erkundigt. Und da habe sofort ich gespürt: Jawohl, das ist was. Wenn ich los laufe, dann dahin. Da ist man nicht ganz allein unterwegs. Und vor allen Dingen: Ich laufe nicht ohne Grund. Obdachlos auf der Straße zu sein und nicht zu wissen, was ich tue den ganzen Tag - das ist die ein Sache. Aber draußen zu schlafen und ein Ziel, immer weiter zu kommen, da fühlte mich sehr gestärkt und war da sehr motiviert.
Doch wer ist er selbst nach all diesen Jahren einer mühevollen Wanderung von Krise zu Krise? Alkohol und Zigaretten gehörten dreißig Jahre zu seinem Alltag, waren Teil von ihm selbst. Jetzt muss er sie für immer meiden, um nicht rückfällig zu werden. Ist er also in Zukunft nicht mehr der Helge von damals? Etwa ein anderer Helge? Oder soll er den Namen als Zeichen seiner Wandlung ablegen? Er mag seinen Namen nicht. Er ist uneindeutig. Gilt als Vorname für Männer und Frauen.
Und was soll er mit dem Leben dieses anderen Helge anfangen? Wo soll er hin? Welchen Beruf ausüben?
Schwere Fragen.
Auf dem Weg jetzt nach Santiago de Compostella, auf der Suche nach mir selbst im Grunde genommen, habe ich gehofft oder gedacht, vielleicht hat Gott einen anderen Namen für mich, also nur für mich das ich mich selber anders identifizieren kann für mich im Inneren in meinem Leben das ich sagen kann gut du trinkst jetzt keinen Alkohol mehr, du musst die Vergangenheit von Verletzungen nicht mehr aushalten du kannst vergeben und du kannst um Vergebung auch bitten auch für dich selber, Gott ist für dich da, aber ich wollte jetzt auch von diesem Helge der so viele Fehler und so viel Sünden begangen hat im Leben loslassen können uns so hab ich meine Vorstellung gehabt als ich losgegangen ob ich am Ende vielleicht - nicht für andere Menschen hörbar - aber für mich selber einen anderen Namen habe
Dann kommt der Augenblick unserer Begegnung. Ich höre Helges Geschichte, während er auf einem Stein am Straßenrand sitzt. Bevor er weiterläuft, tauschen wir die Handy-Nummern aus. In Leipzig und in Schwäbisch Hall kann ich seinen Weg kreuzen, als ich beruflich unterwegs bin. Bei jeder Begegnung sehe ich: sein Rucksack ist kleiner und leichter. Und ich höre: es ist wenig, was man zum Leben tatsächlich benötigt.
Dadurch, dass ich meine Wohnung aufgelöst habe, habe ich mich von Dingen nicht schnell getrennt. Weil ich gedacht habe, vielleicht brauche ich das noch. Ich wolle ja auf dem Weg, habe ich gedacht, ich kann jeden Tag irgendwo bestimmt für drei Stunden an einem Baum oder auf einer Bank sitzen, und kann dann in der Bibel lesen, so drei Stunden, so richtig cool relaxt oder so, da muss ich natürlich mein Notebook mithaben. Da brauche ich natürlich auch eine Power Bank - Ja und dann habe ich aber festgestellt, das brauche ich alles überhaupt gar nicht. Und dann habe ich peu à peu Ballast abgeworfen, sage ich mal so. Und dann war mein Rucksack aber letztendlich trotzdem immer noch kurz unter zwanzig Kilo. Aber jedes Kilo weniger ist dann echt gut.
In Frankreich, höre ich später durch das Telefon, kommt er nur langsam voran, bereut, kein Wort französisch zu sprechen. Dann glaubt er, den Weg nicht zu bewältigen. Immer wieder muss er Pausen einlegen und seine Füße kurieren. In diesen Pausen rechnet er und muss einsehen: bis Ende September wird er Santiago de Compostela nicht erreichen.
In einem Pilgerheim trifft Helge auf einen alten Mann aus Hamburg. Der rät ihm, nicht weiter zu gehen. Es könne nicht der Wille Jesu sein, dass er alle Brücken nach Berlin hinter sich zerstört. Also Umkehr. Die beiden reden eine lange Nacht in einer Pilgerherberge.
Dann, am nächsten Morgen ist der alte Mann verschwunden. Helge telefoniert mit seiner Mutter. Sie rät ihm, weiter zu gehen. Nicht umkehren. Deinen Weg gehen. Die Mutter wird wissen, warum sie so spricht.
Helge läuft zum Bahnhof, kauft spontan eine Fahrkarte und steigt fünfhundert Kilometer später wieder aus dem Zug. Läuft nach Spanien hinein. Die Pyrenäen werden ein optisches Erlebnis. Dann trifft er auf eine deutsch sprechende Ukrainerin. Sie erzählt von ihrem alkohol- und drogenabhängigen Mann, der weder von der Liebe zu seiner Frau noch vom Alkohol lassen konnte und auf tragische Weise starb. Helge läuft einige Tage neben dieser Frau.
Das hat mir so gut getan, weil ich so viel von meinem Leben darin entdeckt habe. Ich konnte so viel von meinem eigenen Leben erkennen. Und diese Liebe zu ihrem Mann, den sie ja nicht retten konnte, weil der auch noch alkoholkrank war - da war ganz viel Gott bei in diesen Gesprächen. Das war richtig ein Dialog, wo Jesus, wie man so sagt, in unserer Mitte ist. Ohne dass wir das bewusst gemacht haben.
Wir haben uns nicht bewusst hingesetzt und haben gesagt, wir laden Jesus jetzt ein, sondern er war immer da. Weil wir beide immer, getrennt voneinander, in unserem Geist, in unseren Gedanken zu Gott gesprochen haben.
Helge ist sich unsicher, ob er diese Frau mag. Sie ist selbst voller Probleme. Helge glaubt nicht, dass diese Begegnung eine Chance für ihn ist. Die Idee, eine Familie zu gründen, verschiebt er. Viel lieber möchte er innehalten, um so, wie er sich es in Berlin vorgestellt hat, am Rand des Jakobsweges in der Bibel zu lesen und in ihr Rat suchen.
Ich habe überhaupt gar keine Power gehabt, in die Bibel rein zu gucken. Ich habe meine Bibel, so eine Studienbibel, und die wog ja auch, das ist ja nicht leicht das Ding - da habe ich vielleicht dreimal reingeguckt. Und sonst habe ich den ganzen Weg die Bibel so mitgenommen. Ich hätte auch mein Smartphone - die Bibel so eine App - wäre ja leichter gewesen.
Fünf Tage vor der Ankunft in Santiago erreicht Helge ein Anruf seines Bruders. Die Mutter sei gestorben. Ganz plötzlich. Helge will das Gehörte nicht glauben. Vermutet einen Irrtum. Jetzt, so kurz vor dem Ziel dieser Schicksalsschlag. Warum diese Prüfung? Der Schock sitzt tief. Helge lässt sich am Wegesrand fallen und weint wie ein kleiner Junge. Alles erscheint plötzlich sinnlos und leer.
Der Weg für mich war, habe ich geglaubt, ist eigentlich zu Ende damit. Ich war richtig fertig. Ich war richtig down, würde man sagen.
Ich habe Gott sei Dank nicht an Alkohol gedacht, auch nicht eine Sekunde, nicht einen Bruchteil von einer Sekunde. Das wäre für mich ganz fatal gewesen. Das kam überhaupt nicht infrage. Am nächsten Tag, als ich losgelaufen bin, habe ich dann meinen Wanderstab - den habe ich dann in ein fließendes Gewässer reingeschmissen. Ich habe echt gesagt für mich: Eigentlich ist der Weg für mich jetzt zu Ende.
Zwei Wanderer aus Singapur, denen Helge zuvor schon einmal begegnet war, heben den Trauernden auf und nehmen ihn mit in eine Herberge. Wieder erzählt Helge seine Geschichte. Die neuen Weggefährten schlagen vor, gemeinsam die letzten Kilometer zu gehen und in der Jakobus Kathedrale zu beten.
Dann haben die beiden mir soviel Mut gegeben und gesagt: kommt überhaupt nicht infrage.
Du kommst jetzt mit uns. Nehme das erst mal so mit. Alles war auf Englisch. Ich verstehe gar nicht so hundertprozent Englisch. Aber vom Gefühl her war das echt und war gut und ich fühlte dann auch, dass es richtig ist, wenn ich mit gehe. Wir haben eine ganz tolle Gemeinschaft gehabt. Viel gebetet auch. Diesen Anfangsschmerz, diesen Druck eigentlich, dieses Gefühl, wie ein Tiger hin und her zu laufen, diese Unruhe, das haben die mir genommen.
Ich bin dann auch ganz dankbar dafür, dass das so gekommen wäre. weil ich nicht weiß, und ich möchte es auch gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn das in Berlin geschehen wäre mit meiner Mutter. Ob ich da aufgefangen wäre.
Jeder, der den Jakobsweg geht, kann sich in der Kathedrale in Santiago de Compostella dafür ein Zertifikat ausstellen lassen. Es gibt große und kleine Dokumente über den bewältigten Weg. Für einige ist eine Gebühr zu entrichten. Helge ist inzwischen mittellos und wendet sich an einen Priester. Der beginnt zu schreiben und übernimmt dazu die Daten aus Helges Pilgerheft. Doch er schreibt nicht Helge, sondern HELGAM. Das sei eine niederländische Variante dieses Vornamens, die in der Heimat des Priesters für Männer angewendet würde. Helge versucht, in eine Diskussion einzusteigen. Doch der Priester weist die Debatte von sich. Steht vor Helge, hebt seinen Arm und wiederholt mehrmals: Dein Name sei Helgam.
Später war mir für mich das klar, dass damit eine Frage für mich beantwortet war: dass Gott mich eben halt so sieht, wie meine Mutter mich halt genannt hat: halt Helge. Ich bin halt Helge und soll nicht nach jemand anders suchen in mir selber. Ich bin halt der, der ich bin. Also hat Gott aus meiner Wahrnehmung, aus meinem Gefühl heraus, zumal der Holländer das dreimal zu mir gesagt hat, dass mein Name Helgem ist. Also ich heiße Helge. Mein Name ist Helge. Da war ich dankbar dafür, dass diese Frage auch beantwortet ist.
Freunde schicken Helge ein Flugticket nach Santiago. Er kann pünktlich in Berlin sein, um dort in der Berliner Stadtmission die Betreuung der Wohnungslosen während des bevorstehenden Winters vorzubereiten. Das Angebot, die Arbeit in einer Außenstelle in eigener Verantwortung zu koordinieren, nimmt er an. Vierzig Schlafplätze kann er in einer Notunterkunft Tag für Tag bereitstellen und ist glücklich dabei. Er weiß mit denen, die da kommen, umzugehen.
Ich spüre einen ganz tiefen Frieden. Also wenn mein Arbeitgeber morgen sagen würde, du kannst Morgen leider nicht mehr hier arbeiten, wir haben einen anderen, dann ist das für mich kein Problem, weil ich genau weiß, mein Leben geht irgendwie weiter und das hängt nicht alles an dem Arbeitsplatz ab. Ich habe innerlich keinen Stress mehr. Was ich mit all dem Alkohol immer gedeckelt habe, sag ich jetzt mal, was mich berührt, belastet hat, unter Druck gesetzt hat, darauf hin habe ich Frieden. Durch Jesus Christus. Durch wen sonst. Das hat Jesus mir geschenkt. Also so empfinde ich das eben halt.
Was wäre mit mir gewesen, wenn ich Helge nicht begegnet wäre. Wenn ich in jenem Augenblick auf der Landstraße nicht umgekehrt wäre, um zu fragen: Wandersmann, wohin des Weges. Ich könnte sentimental formulieren: mir würde etwas fehlen. Doch mich bedrängt die Frage: warum diese Begegnung? Vielleicht, um von Helges Weg zu erzählen. Vielleicht, um ihm zur Seite zu stehen. Oder zeigt mir die Begegnung mit Helge, dass man Verzweiflung überwinden kann, wenn sie einen berührt? Und man sich berühren lässt, einen – kleinen – Moment am Kreuz stehen bleibt um dann neu anzufangen und wieder zu gehen? Dass dies geschehen kann, das weiß ich jetzt. Das habe ich durch Helge erfahren. Aus dieser Perspektive ist seine Geschichte, sein Suchen nach Hoffnung, sein Weg, eine offene Geschichte. Ein Gleichnis fast. Und Helge mehr als ein Beispiel. Mir ist er ein Engel, der einlädt, sich auf den Weg zu machen.