Aufgeheizte Zeiten brauchen Menschen, die verbinden können. Die für Recht eintreten, wo nur Meinungen geschrien werden. Der biblische Nikodemus war so ein Mensch. Dem ökumenischen Autoren-Team Anne-Katrin Helms und Ansgar Wucherpfennig ist er ein Vorbild. Musikalische Ausgestaltung von Uwe Krause.
Sendetext nachlesen:
Ansgar Wucherpfennig:
In den biblischen Erzählungen über das Leiden und den Kreuztod von Jesus gibt es eine Reihe von Personen, deren Namen viele kennen: Pontius Pilatus, Petrus, Maria Magdalena. Daneben kommen aber auch Menschen vor, die eher eine Nebenrolle spielen. Die mag ich besonders. Für mich sind sie so etwas wie "Lieblingshelden im Alltag".
Anne-Katrin Helms:
Einen davon stellen wir jetzt vor. Er zeigt, wie wichtig Menschen sind, die sich in aufgeheizten Situationen nicht gleich auf die eine oder auf die andere Seite schlagen. Unser biblischer Lieblingsheld heute heißt Nikodemus. Er gehörte zu den "Führenden in Israel", so steht es im Neuen Testament. Ein vermögender, einflussreicher Bürger in Jerusalem.
Nikodemus war Pharisäer. Jesus setzt sich immer wieder mit Pharisäern auseinander. Manche Forscher nehmen sogar an, Jesus gehörte selbst zu ihnen. Pharisäer sind eine wichtige Gruppe im damaligen Israel, eine Art Laienbewegung. Sie lasen die Bibel intensiv. Sie wollten im Einklang mit den Geboten Gottes leben.
Ansgar Wucherpfennig:
Das Neue Testament stellt die Pharisäer in einem Zerrbild dar, das nicht der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht. In den Evangelien gelten sie oft als unehrlich und kleinlich. Bis in unsere Zeit hält sich das Bild von Heuchlern und Scheinheiligen. Das wird den Pharisäern nicht gerecht.
Denn tatsächlich waren Pharisäer gebildete Rechtsgelehrte. Ihre Position kann man "kasuistisch" nennen. Sie wollten möglichst viele Einzelfälle – also: möglichst viele Kasus – regeln. Für alles sollte es im Alltag eine Regel geben, die der Gerechtigkeit Gottes entspricht.
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus ist ein Pharisäer. Der Evangelist Johannes zeigt ihn als aufrechten Menschen, klug und nachdenklich. Es ist Nacht, als Nikodemus das erste Mal zu Jesus kommt, weil er sich mit ihm allein unterhalten will.
Ich stelle mir vor, wie sich Nikodemus im Dunkeln an den Hauswänden der Jerusalemer Altstadt entlang tastet, um nicht gesehen zu werden. Man könnte meinen, Nikodemus wählt aus Feigheit die Nacht, damit niemand sagt: Schau an, ein Pharisäer geht zu diesem dahergelaufenen Wanderprediger. Aber ich denke eher: Bei Nikodemus – wie bei mir auch – kommen in der Nacht Gedanken hoch, die ich sonst nicht zulasse. Nachts nimmt mich der Alltag nicht mehr in Beschlag. Es ist Zeit für andere Fragen.
Zu Nikodemus gehört das Grübeln, die Unsicherheit, die Sehnsucht nach Vergewisserung. Es braucht eine Portion Mut, wenn ich zugebe: Ich komme mit meinen Fragen nicht allein zurecht. Gern bin ich doch selbst so schlau und fit, dass ich meine Probleme allein lösen kann. Nikodemus traut sich, zur Sprache zu bringen, was ihn nachts wachhält. Deshalb geht er zu Jesus.
Ansgar Wucherpfennig:
Ein Nachtgespräch zwischen Nikodemus, dem Pharisäer, und Jesus, dem Wanderprediger. Nikodemus fängt an: "Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist." (Johannes 3,2)
Nikodemus spricht Jesus als Rabbi an. So haben damals Schüler ihren Lehrer angeredet. Nikodemus ist selbst ein anerkannter Lehrer in Israel. Hier spricht er aber wie einer, der vom anderen lernen will. Nikodemus hat eine erstrebenswerte Eigenschaft: Er hält sich nicht für fertig, sondern bleibt neugierig und will mehr wissen.
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus sagt zu Jesus: Ich weiß, du bist etwas Besonderes. Deshalb traue ich dir Besonderes zu. Ich bin auf der Suche. Ich bin bereit, mich, meinen Glauben und mein Wissen auf den Prüfstand zu stellen.
Wer schon mal vieles von sich oder sogar alles auf den Tisch gelegt hat, kann vermutlich Nikodemus verstehen. Ich mache mich angreifbar, wenn ich meine Fragen und Unsicherheit zeige vor einem anderen Menschen. Oder vor Gott.
Wer das tut, merkt vielleicht: Ich bin nicht so, wie ich mich selbst sehe. Nicht ganz so selbstbewusst, wie ich dachte. Nicht ganz so stark, wie ich erhoffte. Nicht ganz so aufgeschlossen und freundlich, wie die anderen von mir denken. Sich so zu öffnen, kann weh tun. Aber es ist heilsam.
Das Gespräch, das sich nun zwischen Nikodemus und Jesus entwickelt, ist verwirrend, wenn man es das erste Mal in der Bibel liest. Auch Nikodemus versteht nicht sofort, was Jesus ihm sagen will.
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus fragt Jesus sinngemäß: Was bedeutet Gott für mein Leben? An welchen Zeichen erkenne ich, dass Gottes Geist in meinem Leben wirkt? Jesus gibt ihm eine Antwort, allerdings klingt die ziemlich rätselhaft: Der "Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist." (Johannes 3,8)
Das Hebräische und das Griechische haben ein und dasselbe Wort für Geist und Wind. Darum erkläre ich mir Jesu Antwort so: Gottes Geist ist etwas, das den Menschen umgibt wie die Luft und der Wind. Jemand, der wissen will, was Gott für ihn bedeutet, der muss auf Gottes Zeichen achten.
Das ist so schwierig, wie den Wind zu beobachten. Der Wind kann schnell die Richtung wechseln oder aufbrausend sein. Manchmal steht er sogar still. So muss auch jemand, der Gottes Zeichen verstehen will, immer weiter und immer wieder neu lernen, wo Gottes Geist gerade gegenwärtig ist.
Den Wind kann man nie ganz genau berechnen. So kann ich auch nie ganz genau wissen, wo Gottes Geist weht. Aber ich kann ein Gespür dafür bekommen, in welche Richtung Gottes Geist mich bewegt, so wie der Wind die Blätter oder ganze Bäume bewegt. In diesem Sinn verstehe ich die Antwort von Jesus an Nikodemus: "Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist Gottes geboren ist."
Anne-Katrin Helms:
Nach dem Nachtgespräch mit Jesus taucht Nikodemus ein weiteres Mal im Johannesevangelium auf. Wir befinden uns im Tempel von Jerusalem. Jesus spricht vor vielen Menschen. Was er sagt, ist vielen religiösen Gelehrten ein Dorn im Auge. Sie versuchen, Jesus festzunehmen. Das gelingt ihnen aber nicht. Um ihr Gesicht zu wahren, spielen sie herunter, was Jesus sagt und tut. Niemand, der Verstand habe, würde auf das hören, was Jesus da von sich gibt. Jesus sei dreist, anmaßend, gotteslästerlich.
Nikodemus gehört zu diesen Gelehrten. Aber er macht da nicht. Er ergreift Partei für Jesus. Er fragt, ob das Gesetz jemanden verurteile, bevor man ihn gehört hat und bevor man sich einen tragfähigen Eindruck verschafft hat. Er bringt seine Kollegen ins Nachdenken. Er zeigt die Möglichkeit auf, dass man die Sache auch anders beurteilen kann, als es die Mehrheit macht.
Nikodemus tut das nicht mit einer scharfen Gegenrede, sondern mit einer Frage: "Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut?" (Johannes 7,51) Ich wünsche mir in vielen Auseinandersetzungen Menschen wie Nikodemus mit Geistesgegenwart und Gespür für die richtige Frage zur richtigen Zeit.
Ansgar Wucherpfennig:
Mit seiner Frage bleibt Nikodemus der Position der Pharisäer treu. Er fragt nach Recht und Gesetz, und das in einer aufgeheizten Stimmung. Heute würde man davon sprechen, dass Nikodemus für Rechtsstaatlichkeit eintritt, dafür, dass eine aufgebrachte Menge nicht einfach das Recht von Menschen beugen darf.
Das gilt auch heute in unserem Rechtsstaat. Es gibt viele, die die Rechte bestreiten von Menschen, die ihnen unliebsam sind, die sie am liebsten weghaben wollen. Zum Beispiel das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte. Nikodemus erinnert mich daran, dass Recht und Gesetz für jeden Menschen gelten, solange sie der Gerechtigkeit entsprechen. Und dass ich auch dafür eintrete.
Anne-Katrin Helms:
Als Jesus gekreuzigt wurde, ist Nikodemus noch mutiger. Das Johannesevangelium erzählt: Nikodemus geht zusammen mit einem Gleichgesinnten bei einbrechender Dunkelheit zum Kreuz. Sie nehmen Jesu Leichnam ab und bringen ihn zu einem Grab. Die beiden riskieren viel. Denn Jesus wurde wie ein Schwerstverbrecher am Kreuz hingerichtet. Schwerstverbrecher bekamen kein Begräbnis. Ihre Leichen wurden einfach in ein Massengrab geworfen.
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus verhindert das. Er tut sogar noch mehr: Er hat Myrrhe gemischt mit Aloe dabei. Das sind pflanzliche Mittel, die desinfizieren, konservieren und duften. Myrrhe und Aloe waren teuer. Nikodemus hat viel Geld dafür ausgegeben. Er salbt damit den geschundenen Körper Jesu. Die Salböle wurden in die Leinentücher gerieben, mit denen der Leichnam eingewickelt wurde. Der Leichnam verwest dann nicht so schnell.
Nikodemus wollte dafür sorgen, dass Jesus ein würdiges Begräbnis bekommt. Er zeigt damit: Jesus war und bleibt für mich ein besonderer Mensch, ein kluger Lehrer mit einem gebildeten Herzen. Ich konnte mich ihm anvertrauen. Dass man ihm seine Würde nehmen will, lasse ich auch nach seinem Tod nicht zu.
Anne-Katrin Helms:
Nikodemus war kein Jünger Jesu. Vielleicht war er nicht mutig genug dafür. Vielleicht war er auch einfach noch nicht vollständig überzeugt. Aber Jesus hat ihn beeindruckt. So sehr, dass er für ihn eingetreten ist, als viele andere sich gegen Jesus gewendet haben.
Heute würde man das vielleicht "Teilidentifizierung" nennen. Nikodemus gibt nicht sein ganzes Leben für Jesus auf. Aber so weit er kann, setzt er seine Stellung und sein Vermögen für ihn ein.
Er gibt ein Beispiel dafür: Ich muss mein Leben nicht zu 100 Prozent einer Überzeugung oder einem Lebensmodell verschreiben. Ich kann in meinem Beruf, in meiner Familie, in meiner Lebenssituation bleiben und gerade darin Gutes bewirken und mich zu meiner Verbindung zu Jesus Christus bekennen. Aber wenn es darauf ankommt, dann hoffe ich, dass ich tue, was richtig und wichtig ist. Und sei es zögerlich oder in der Nacht, wenn mich niemand sieht.
Ansgar Wucherpfennig:
Nikodemus ist einer, der zwischen den Stühlen sitzen kann. Das hört sich unbequem an. Zwischen zwei Stuhlkanten tut einem der Hintern schnell weh. Ganz praktisch sowie im übertragenen Sinn. In einem Konflikt kann ich mich mit beiden Parteien verbunden fühlen. Ich sehe, dass beide ihre Gründe und ihr Recht haben. Aber jede Seite will, dass ich mich für sie entscheide. Dann muss ich aushalten, dass ich zwischen den Stühlen sitze. Beiden Positionen ihr Recht lassen. Aber auch meine eigene Position finden. Das ist Nikodemus gelungen. Er war Pharisäer und ist es auch geblieben. Gleichzeitig war er aufgeschlossen für das, was Jesus sagte und tat.
Zurzeit bewegen sich Meinungen und Positionen immer stärker auseinander und richten sich gegeneinander. Da sind Menschen wie Nikodemus wichtig: Menschen, die es fertigbringen, zwischen den Stühlen zu sitzen und die Verbindung zu den unterschiedlichen Konfliktparteien zu halten.
Anne-Katrin Helms:
Hat Nikodemus die Auferstehung Jesu mitbekommen und daran geglaubt? Oder blieb er zwischen den Stühlen? Das lässt das Johannesevangelium offen. Aber es zeigt einen Jesus, der sich Menschen widmet, auch wenn sie nicht hundertprozentig auf seiner Seite stehen. So wie Nikodemus: Pharisäer und fasziniert von Jesus. Jemand, der zwischen den Stühlen sitzen kann.
Musik dieser Sendung:
1. Bloch: From Jewish Life - 2. Supplication
2. Vorspiel Zu Der Sturm
3. Suite Hebraique - II. Processional: Andante Con Moto
4. Blezard: Duetto