Armut, die leise ist
mit Pfarrer Wolfgang Beck aus Hildesheim
08.10.2022 23:35

Ein bisschen später mit dem Heizen anfangen. Ein bisschen weniger Strom verbrauchen. Dann wird’s schon gut gehen. Irgendwie. Das habe ich in den letzten Wochen schon häufiger gedacht, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Dieses „Es wird schon irgendwie gut gehen“ bringt mich ja auch sonst halbwegs unaufgeregt durchs Leben. Warum soll ich bei Gas- und Strompreisen, bei Inflation und teureren Lebensmitteln in Panik geraten? Ich kann es ja doch nicht beeinflussen. „Es wird schon gut gehen.“ Trotz der Krisen dieses Herbstes: Dass gerade diese Gelassenheit möglicherweise ein riesiger Luxus ist, wird mir klar, wenn ich erlebe, wie knapp die Finanzen bei vielen Menschen sind.

Vor kurzem erzählte ein Lehrer, dass ein Grundschüler die Unterschrift seiner Mutter gefälscht hat. Er wollte den Brief, in dem es um einen kleinen Geldbetrag für einen Ausflug ging, zuhause nicht zeigen. Er wusste, dass seine Mutter wieder weinen und ihn vor dem Ausflug krankmelden würde. Und der Lehrer? Der wusste nicht, wie er dem Schüler erklären sollte, dass es auch mit einem guten Motiv nicht in Ordnung ist, eine Unterschrift zu fälschen. Aber was soll man sagen, wenn Kinder ihre Eltern zu schützen versuchen, weil das Geld zuhause so knapp ist?

Diese Geschichten von Armut können einem das Herz zerreißen. Sie lassen mir die Stimme stocken.

Was soll man da sagen? Es sind Situationen, in denen Menschen eben nicht mehr sagen können „es wird schon irgendwie gutgehen.“ Wenn ich solche Geschichten höre, werde ich leise. Aber vielleicht ist gerade das falsch. Einer, der in seiner Zeit einen anderen Weg gegangen ist, ist der Prophet Amos.

Der ist nicht leise geworden. Sondern laut! Er beobachtet auch in seiner Zeit, dass ein paar Wenige in Luxus leben und andere Menschen in bitterer Armut. Hinter solcher Ungleichheit stehen Ungerechtigkeit und Ausbeutung, Verlogenheiten und Heuchelei. Amos prangert all das sehr laut an. Unbequem laut.

Er wird zur Stimme für diejenigen, die selbst nicht mehr die Kraft haben, auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sicher, es wäre naiv, solche biblischen Propheten, solche Typen und ihre anklagenden Reden ganz direkt in heutige Situationen zu übertragen. Aber die Not offen und laut anzusprechen, vor allem der Männer und Frauen, die selbst nicht mehr die Kraft dazu haben – da gibt der Prophet Amos gerade heute Orientierung.

Vielleicht ist es in diesem Herbst an der Zeit, eine neue Frage aufzuwerfen: Wenn Sie auch in der glücklichen Situation sind, bislang sagen zu können „es wird schon gutgehen“, dann wäre zu fragen: Wem kann ich eigentlich mit einer Spende oder einer anderen dezenten Form helfen, weil er oder sie mit dem Rücken an der Wand steht und vermutlich schon jetzt nicht weiter weiß.

Von Armut betroffene Menschen leben in andauerndem Stress. Da ist nicht nur der Streit zuhause, weil es wieder nicht für die Wünsche der Kinder reicht, die sich natürlich mit den Gleichaltrigen in der Schule messen. Da nehmen Menschen mehrere Jobs an und sind mit ihren Kräften am Ende. Da scheuen Senior*innen den Weg zum Amt, weil ihnen die Sozialleistungen peinlich sind. Da werden die Warteschlangen bei der Lebensmittelausgabe länger und länger. Diese Menschen fordern meist nicht laut Unterstützung ein. Umso wichtiger wäre es in diesem Herbst, sie zu hören – und ihnen konkret zu helfen.

Einen guten Sonntag!

Sendeort und Mitwirkende

Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Sabine Pinkenburg
 

Kontakt zur Sendung

Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR

Andreas Herzig, Erzbistum Hamburg

Am Mariendom 4

20099 Hamburg


Tel.:   040 248 77 112

E-Mail: herzig@erzbistum-hamburg.de

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