Lob des Zweifels
mit Pfarrerin Stefanie Schardien
14.01.2023 23:50

Guten Abend,

woher weiß ich, wer hier die Guten sind? Ich hab mich das immer wieder die ganze Woche gefragt, bei den vielen Meldungen aus Lützerath, beim Liveticker, nach Interviews mit Wissenschaftlern und Betroffenen vor Ort.
Wer sind hier die Guten?

Die Aktivisten? Weil sie sich für die Rettung der Erde und den Schutz des Klimas einsetzen? Oder: Sind die Guten die Politikerinnen und Politiker, weil sie versuchen, mit Kompromissen irgendwie gangbare Wege für alle zu finden? Oder: Sind die Guten die Polizei und alle Einsatzkräfte, weil sie für unsere Sicherheit und Ordnung sorgen?

Wer sind die Guten? Ja, alle! Aber nur dann, wenn sie eins nicht vergessen. Das Zweifeln.  Die Guten sind vor allem diejenigen, die zweifeln! Das sage ich als Christin, gerade als Christin. Als eine, die glaubt, sag ich: Es braucht in diesen Tagen und in dieser Zeit vor allem den Zweifel. In den Baumhäusern in Lützerath, Zweifel am Stammtisch in der Kneipe und am Redepult im Bundestag, bei Demos und auf allen Kanzeln. Nein, ich meine nicht, dass wir immer nur an den anderen zweifeln sollen: "Lass die erst mal alle anständig arbeiten gehen." … "Die da oben haben doch einfach keinen Plan." Nein, an unseren eigenen Positionen müssen wir zweifeln. Denn falsche Propheten, eine der bitteren Erkenntnisse aus der Bibel, sind die, die ihre Botschaften nicht mehr hinterfragt haben. Der Brustton der Überzeugung ist wichtig – aber ohne Zweifel? Wie schnell verrenne ich mich da? Laufen dann noch Kameras und Mikros, muss ich meine eigene Meinung doch noch unangreifbarer darstellen. Und so driften Überzeugungen auseinander, werden immer härter, unversöhnlicher. Dafür, dagegen. Keine Durchgangswege mehr.

Es ist soooo wichtig, wenigstens einen Spalt offenzuhalten: Könnte es sein, dass ich Wichtiges übersehen habe oder überhört? Vielleicht gibt es andere Wege, die wir auch gehen können? Zweifeln bedeutet nicht, die eigene Meinung einfach über Bord zu werfen. Oder sich dann für nichts mehr einzusetzen aus Angst, falsch zu liegen. Darum geht es ja gar nicht. Sondern: wäre da vielleicht mal was Anderes denkbar, zwischen mir und denen, zwischen Law und Order und den Klimaaktivisten? Würden sich andere Gespräche und Ideen entwickeln?

Alle treten täglich mal einen Schritt von den eigenen Überzeugungen zurück und lassen diesen Funken Zweifel an sich ran: Vielleicht gehören andere auch zu den Guten?

Ob mit dem Zweifeln irgendwann Schluss ist? Wissen wir irgendwann einmal mehr? Tja, dauert vermutlich noch, aber ich hoffe schon. Jedenfalls glaube ich als Christin eben daran. Dass das am Ende meiner Tage passiert. Und wer weiß, ob meine Überzeugungen dann gut ankommen? Oder ob ich vielleicht an den göttlichen Besprechungstisch zitiert werde und höre: Liebelein, damals hast du aber ordentlich danebengelegen.
So werden wir dann hoffentlich alle endlich den Durchblick bekommen über richtig und falsch, gut und böse.

 

Bis dahin? Versuchen wir, unser Bestes zu tun und gestehen wir anderen zu, dass sie das auch wollen! Informieren wir uns! Wägen wir ab! Nehmen wir Sorgen ernst! Suchen wir nach guten Kompromissen! Aber eben in alledem: das Zweifeln nicht vergessen!

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Nacht.

Sendeort und Mitwirkende

Bayrischer Rundfunk (BR)

Redaktion: Tilmann Kleinjung

Das Wort zum Sonntag