Sommer! Zeit zum Luftholen. Das ist auch schwer nötig. So vieles lässt den Atem stocken. Atmen ist mehr als Sauerstoff rein, Kohlendioxid raus. Es verbindet mit Gottes Schöpferkraft.
Sendetext nachlesen:
Mmhh… das riecht so gut hier. In diesen Wochen im August mache ich Urlaub in den Bergen. Wenn ich morgens nach draußen gehe, denke ich jedes Mal: Das riecht soo gut hier. Auch einfach ganz anders als in den Hochhausschluchten der Großstädte oder zuhause. Würzig und frisch, nach Wiese und Kühen. Herrlich. Dann stehe ich dort einfach und atme tief ein und aus. Was für eine Luft. Ferienzeit. Im Sommer nehmen sich viele Menschen zum Glück häufiger Zeit für solches Durchatmen in der Natur. In den Bergen oder im Stadtwald, am Meer, an Flüssen, Badeseen oder Bächen. Einfach mal innehalten und Luft holen.
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, Durchatmen – Einatmen. Ausatmen. Während ich hier spreche, habe ich das bereits ungezählte Male getan, ohne darüber nachzudenken. Und jetzt in diesem Moment gleich wieder: Atmen. Ein und aus… Sobald ich darüber nachdenke, fange ich sofort an, irgendwie anders Luft zu holen.
Bewusst atmen. Für gewöhnlich tue ich das selten. Ziemlich selten. Im Büro nicht und auch nicht zuhause. Das Atmen geschieht schließlich einfach so. Und das vom Moment der Geburt an, noch bevor wir begreifen können, was wir da tun. Jede Sekunde, Jahrzehnte lang von morgens bis abends und natürlich nachts, wenn wir meinen, wir würden nur schlafen. Beim Arbeiten und Feiern, beim Bergsteigen – da dann etwas schwerer – beim Küssen: Nie hört es auf, das Atmen. Erstaunlich lautlos begleitet es mein Leben, und das, obwohl, wie ich gelernt habe, unsere Lunge eine Hochleistungssportlerin ist. Pro Tag atmen wir mit ihr nämlich etwa 12.000 Liter Luft ein. So eine Menge passt in 75 gefüllte Badewannen. Jeden Tag 75 Badewannen voll Luft in mir! Erstaunlich.
Atmen in Zeiten, die denen mir die Luft wegbleibt
Für gewöhnlich denke ich selten übers Atmen nach. Zurzeit aber doch. Weil mir unsere Zeit so atemlos vorkommt. Weil ich bei mir und bei so vielen Menschen um mich herum diese Sehnsucht spüre. Die Sehnsucht, endlich einmal wieder aufatmen zu können. Ich würde gern ab und zu durchatmen dürfen inmitten der Dauerkrisen, der "multiplen Krisen", wie es oft heißt. Das klingt so merkwürdig nach Krankheit. Wir leiden an multiplen Krisen. Und zu deren Symptomen gehört Atemnot.
Mir stockt der Atem von all dem Leid und dem Sterben. All diesem sinnlosen Hass. Dieser unfassbaren Rotzigkeit, mit der Machthaber – hier muss ich nicht gendern – mit der Machthaber Leid und Unglück über so viele Menschen bringen, über Mütter und Senioren, über Männer, Jugendliche, Kinder.
Ich dachte, wir hätten das Nachdenken über das Atmen nach Corona hinter uns gelassen. Aber mein Atem stockt und stockt. Wenn wir doch nur einmal wieder aufatmen dürften. Und wenn umgekehrt doch bitte all jene einmal die Luft anhalten würden, die sonst so gern pausenlos Dampf ablassen.
Umso wichtiger sind mir solche Zeiten wie in den Bergen, wenn ich in der Natur tief durchatmen kann. Wenn mir gute Luft und frischer Wind um die Nase wehen. Also: Tief einatmen. In die Lunge. Davon bekommt sicher auch die Seele eine Menge ab. Einmal durchlüften, bitte!
Ruach – Gottes Atem
Weil mir der Atem stockt und weil ich mich nach dem Durchatmen sehne – und weil das Ein und Aus unser täglicher Begleiter ist, darum finde ich: Warum nicht dem Atem hier auch anders auf die Spur kommen? Auf die Glaubensspur. Bei fernöstlichen Religionen mit intensiver Meditationspraxis ahnt man bereits, dass dem Atem besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Aber: Hat er im christlichen Glauben überhaupt eine Bedeutung?
Wenn ich anfange, in der Bibel zu suchen, im Geschichten-Fundament meines Glaubens, dann muss ich nicht weit blättern. Direkt in den allerersten Sätzen kommt der Atem vor. In der Erzählung von der Schöpfung.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, (…) und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. (1. Mose 1,1-2)
Wo da der Atem ist? Doch, doch, er kommt schon vor. Denn da könnte ebenso gut stehen:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Gottes Atem schwebte über dem Wasser.
Oder so:
…und Gottes Wind schwebte über dem Wasser.
Es ist nicht so leicht, mit einem deutschen Wort zu übersetzen, was da auf Hebräisch in der Bibel steht: Die Ruach Gottes schwebte über dem Wasser.
Ein Wort ist zu wenig. Menschen damals haben bei Ruach viel mehr mitgehört. So wie wenn wir zum Beispiel sagen "Musik" und gleich mithören, dass es Streicher sein könnten oder Gesang, Noten oder Krach, leise oder laut, Klassik oder Pop.
So ist es bei Ruach. Da schwingt ganz viel mit: Wind, Atem, Luft, Geist… Noch bevor irgendetwas Konkretes erschaffen wird, macht sich Gottes Ruach über dem Wasser bemerkbar. Das "Bevor" – das zeichnet diesen Gottesatem, diese heilige Luft aus wie auch unseren Atem: Noch bevor wir darüber nachdenken, ist dieser Atem immer schon da.
Das ist so von der ersten Sekunde unseres Lebens an. Selbst vor dem ersten Neugeborenen-Schrei mussten wir ja einatmen. So sollen wir uns der biblischen Geschichte nach die Schöpfung vorstellen. Bevor Gott die Pflanzen, Gestirne, Tiere und Menschen geschaffen hat, gibt es bereits ein großes, lebendiges Ein- und Ausatmen in der Welt. Bereit für alles Leben, das kommt und das noch werden soll.
Mich beruhigt diese Vorstellung: Gottes Atem voller Schaffensdrang und Schaffenskraft geht der ganzen Welt und meinem eigenen Atem und allem Grübeln darüber voraus.
Gottes Ruach, von der Stärke eines Orkans bis zum sanften Hauch. Dieser Lebenswind schwebt in der Schöpfungserzählung der Bibel nicht einfach gleichmäßig wie ein ruhiger Atem über das Wasser. Er ist in Bewegung, ein "Flattern" ließe sich auch sagen, ganz dynamisch. Bibelforscherinnen haben herausgefunden: Wenn Menschen zu biblischen Zeiten von der Ruach hörten, dann klang das für sie nicht nach ruhigen, entspannten Atemzügen, sondern nach so einem richtig heftigen Atmen, voller Energie. So, wie es nicht ständig vorkommt, aber unter anderem in einem entscheidenden Moment: bei der Geburt.
Gottes Ruach kann ich mir vorstellen wie das Atmen in den Wehen, wenn ich gefühlt alle Kraft der Welt da hineinsetze, diesen neuen kleinen Menschen zur Welt zu bringen. Das ist kein entspanntes Ein und Aus. Eher ein Ausnahmezustands-Atem, der bei allen Schmerzen das Einzige ist, was ich tun kann: Atmen. Zwischen den Wehen gut Luft holen für den Endspurt.
Auch wenn durch die medizinische Begleitung die Gefahren für Mutter und Kind viel geringer sind als früher, spüren alle Beteiligten bis heute: Das Lebensbedrohliche ist mit im Raum, wenn neues Leben zur Welt kommt. Die Erleichterung und das Aufatmen sind groß, wenn es da ist und das Baby seine ersten eigenen Atemzüge macht. Reste von dieser Anspannung und der möglichen Gefahr liegen nach wie vor in der Luft der Kreißsäle: Leben und Tod liegen nah beieinander, hauchnah.
Ruach. Gottes lebendiger Atem, der selbst Leben schafft und der zugleich daran erinnert: Leben ist nicht selbstverständlich. Die Bibel erzählt davon, dass Gott sich mit dieser kräftigen Lebensluft mit den Geschöpfen und auf besondere Weise mit uns Menschen verbindet. Wie ein luftiges Band zwischen Gott und Geschöpf.
In der Bibel gibt es zwei Schöpfungserzählungen nebeneinander. In der ersten schwebt Gottes Ruach über den Wassern. In der zweiten kommt Gottes Atem nochmals anders vor. Sehr bildlich. Das ist die Geschichte mit dem Garten Eden und Adam und Eva. Zuerst formt Gott den Menschen aus Staub. Aber das allein reicht nicht. Erst als Gott ihm den Odem des Lebens in seine Nase bläst, da "ward der Mensch ein lebendiges Wesen". (1. Mose 2,7)
Mit dem Lebensodem kommt das in den Menschen, was ihn ausmacht: eine lebendige Seele. Im Hebräischen ist das ein lautmalerisches Wort: Näfäsch. Da kann man Gottes Odem wehen hören. Der Mensch hat diese Näfäsch für eine begrenzte Zeit. Denn – so traurig wir das finden – es gehört zum Lebenskreislauf, dass Menschen ihr Leben irgendwann aushauchen.
In einem Psalm in der Bibel steht über Gott und all seine Geschöpfe:
SPRECHER 4: Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder Staub. Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du machst neu das Antlitz der Erde. (Psalm 104,29f)
Mein Atem, der ist in meinem Glauben mehr als das, was ich aus den Naturwissenschaften weiß: dass ich Sauerstoff ein- und Kohlendioxid ausatme. Nach den Bildern der Bibel verbindet mich jeder Atemzug mit Gottes Atem. Ich gehöre mit hinein in den göttlichen Atemkreislauf mit meiner Lunge und ihren 75 Badewannen Luft an jedem Tag. Aber auch meine Seele ist ein Teil davon.
Der verstorbene Schweizer Dichter Kurt Marti hat diesem Gedanken schöne Worte gegeben:
Mein Atem geht – was will er sagen?
Vielleicht: Schau! Hör! Riech!
Schmeck! Greif! Lebe!
Vielleicht: Gott atmet in dir mehr als du selbst.
Und auch:
In allen Menschen, Tieren, Pflanzen atmet er wie in dir.
Und so:
Freude den Sinnen! Lust den Geschöpfen! Frieden den Seelen!
Gott atmet in mir mehr als ich selbst. So selbstverständlich, wie ich mein Atmen hinnehme, so sehr ist dieser Atem durchwoben von luftiger, energischer Schöpferkraft. Und ich glaube: Gottes Atem ist voller hauchdünner Teilchen von Freude, Lust, Frieden, die wir einatmen und hoffentlich auch ausatmen für andere.
Durchgepustet: Geist Gottes
Gott atmet mehr in dir als du selbst. Mit den Augen des Glaubens betrachtet geht es beim Atmen um mehr als nur um Luft rein und Luft raus. Es ist mehr damit verbunden als das bloße Überleben. Darum verwebt sich die Vorstellung von Gottes Atem besonders im Christentum immer mehr mit der von Gottes Geist. "Atme in uns, heiliger Geist", hieß es gerade in dem Lied.
Es reicht nicht der Sauerstoff, der uns in dieser Welt umgibt. Es braucht mehr, um zu leben. Diese Erfahrung hatten auch die Freundinnen und Freunde Jesu gemacht. Nach dem Tod Jesu, nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt wurde es schwierig: Wie sollte ihr Glaube lebendig bleiben? Irgendwann würde die Luft raus sein. Woher sollten sie die Kraft nehmen, weiterzumachen mit dem, was sie mit Jesus erlebt hatten? Es brauchte frischen Wind. Und den haben sie dann bekommen – buchstäblicher als vielleicht gedacht.
Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab. … Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. (Apostelgeschichte 2,1-6)
Gottes Geist, diese brausende Lebensluft – das ist nicht irgendein Wind, der durchs Haus fegt, sondern Luft plus Gotteskraft. Die Windrichtung ist Gottes Liebe. Und so bekommen die Menschen neue Worte für ihr Leben geschenkt und werden einander nähergebracht. Sie verstehen sich, auch wenn sie andere Sprachen sprechen.
Wie ein anständiger Wind hängt Gottes Geist nicht ein für alle Mal fest in dieser Welt, in unseren Gemeinden und in meinem Kopf. Er bleibt in Bewegung, weht, wie er will und wo er will – und vor allem: immer wieder neu. Göttliche geistreiche Beatmung für uns, einzeln und als Gemeinschaft. Die wünsche ich mir.
Das sind Bilder von Wind und Atem und Geist, die ich erinnern will. Immer – aber jetzt besonders in diesen Zeiten. In denen mir der Atem stockt vor den vielen Grausamkeiten. Wo viele wie ich die Luft anhalten, wie lange diese Welt das eigentlich noch aushalten wird.
Ich spüre, dass es nicht allein mit Sauerstoff getan ist für mein und unser aller Leben. Ich sehne mich nach den feinen, luftigen Partikeln von Gottes Liebe und Freude, Lebenslust und Frieden. Solche, die ich selbst erst für mich ein- und für andere dann ausatmen kann. Und die ich am liebsten raussinge, damit sie möglichst weit fliegen.
Wenn ich mich umsehe, entdecke ich viele Menschen und Orte, die Gottes Atem gebrauchen können, der Leben schafft und sie mitträgt, immer in Gottes Liebes-Windrichtung:
Die Müden, die Auftrieb brauchen. Ich wünsche ihnen, dass sie spüren: Noch bevor sie selbst etwas tun, ist Lebensluft bereits da, das große, kräftige Atmen, bereit für das Leben, das kommen soll und werden wird.
Die, bei denen die Luft raus ist nach immer mehr Hiobsbotschaften. Die für Frieden und Demokratie demonstrieren und sich fragen: Was bringt das? Da möge Gottes Atem hineinwehen, so dass alle wieder spüren, wie wunderbar Frieden und Gerechtigkeit duften.
Den Traurigen wünsche ich, dass sie ab und an durchatmen können.
Und ich sehne mich nach dieser durchwirbelnden göttlichen Lebensluft, wo nur noch Unmut und Wut rausgeblasen werden, wo die Gedanken sich verquert und verheddert haben im Hass. Da braucht es ein ordentliches Brausen, das die Menschen einander wieder näherbringt.
All das lässt sich nicht herbeizitieren oder organisieren. So wie alle, die vielleicht gerade im Urlaub an der Nordsee Drachen steigen lassen wollen, den Wind dazu nicht herbeizwingen können. Dass Gottes Geist in uns atmet, darauf kann ich nur hoffen. Manchmal müssen wir einfach warten auf den Wind. Oder im Gebet darum bitten.
Bei meiner Wanderung in den Bergen ist der Wind aufgefrischt. Wie aus dem Nichts. Fast ein kleiner Sturm. Unruhe bei den Kühen. Mit läutenden Glocken um den Hals sind sie unter die Bäume getrabt. Erste Blätter sind aufgewirbelt. Ich halte auch an. Und atme: Ja, das will ich jetzt in diesem Sommer. Ganz viel durchatmen, tief Luft holen für die nächste Strecke, auf der mir vermutlich immer wieder der Atem stocken wird. Ich will mich an den Lebensatem erinnern, an das kräftige luftige Band zwischen Gott und uns. Und für einen Moment, da in diesem Wind in den Bergen, habe ich das Gefühl: Gott hat einmal ordentlich Luft geholt und sie uns in die Welt gepustet.
Über Gottes Geist-Wind in der Welt hat die Theologin und Poetin Dorothee Sölle ein Gedicht geschrieben. Sie hat sich inspirieren lassen von den Versen des alten englischen Kirchenlieds "Breathe on me, Breath of God". Hauch mich an, Atem Gottes.
Geist – Wind
Woher kommst Du?
Wohin gehst Du? -
Du machst uns frei
zu kommen, zu gehen - an diesem Tag
für dieses Leben
Atem Gottes
Geist - Wein
Du machst uns trunken
Du machst uns mutig -
Wir stoßen an:
Brüder, Schwestern -
an diesem Tag,
für dieses Leben.
Atem gottes hauch mich an
füll du mich wieder mit leben
dass ich was Du liebst lieben kann
und rette was Du gegeben
Atem gottes weh mich an
bis mein herz Dir offen
bis ich was Du willst wollen kann
im handeln und im hoffen
Atem gottes blas mich an
bis ich ganz Dein werde
bis Dein feuer in mir brennt
auf der dunklen erde
Atem des lebens atme in mir
lehr mich die luft zu teilen
wie das wasser wie das brot
komm die erde zu heilen