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Herbstlich leben
Zwischen Werden und Vergehen
16.11.2025 07:05

Goldene Farben und kahle Zweige. Der Herbst erzählt von Fülle und Vergänglichkeit zugleich. Eine Sendung über das Leben zwischen Ernten und Loslassen, über Schönheit im Vergehen und die Hoffnung auf Neues.

 

Sendetext nachlesen:

Ein Morgen im November. Ich schaue hinaus in den Garten. Kahle Zweige, kaum ein Blatt mehr am Baum. Gedämpfte Farben. Grauer Nebel liegt über dem Laub. Es will nicht hell werden heute. Ich zünde eine Kerze auf der Fensterbank an. Sanfter Schein, der sich in der Glasscheibe spiegelt. 

Wie bunt es draußen war vor ein paar Wochen: Das dunkle Rot der Weinranken an unserem Schuppen. Das brüchige Grün des Hopfens mit seinen kleinen Zapfen. Gelb leuchtend die Quitten am Strauch. Daneben die Apfelbäume, im September haben sich ihre Zweige vor Früchten gebogen. Selten zuvor haben wir so viele Körbe voller Obst ins Haus getragen. Die Blütenpracht der Astern, lila, rot, blau, mit Laub zu kleinen Sträußen gebunden. Haselnüsse überall, die wir in freundlicher Konkurrenz zu den Eichhörnchen vom Boden aufgesammelt haben. Goldene Farben. "Der Herbst steht auf der Leiter und malt die Blätter an", hat Peter Hacks gedichtet, "ein lustiger Waldarbeiter, ein froher Malersmann". So war es auch in diesem Jahr. Berückend schön.

Jetzt sind die Kleckse und Pinselstriche, die der große Malersmann "auf jedem Blattgewächs" hinterlassen hat, längst verblasst und einem dunklen Braun gewichen. Verschwunden auch das zarte Rosa, mit dem die letzte Rose lange noch einen Farbtupfer in den Garten gesetzt hat. Ihre Blütenblätter sind abgefallen. Was war, ist nur noch zu erahnen.  

Herbst. Zeit des Wandels. Zeit der Gegensätze.

Herbst, das ist zum einen ein Feuerwerk an Farben. Das sind pralle Früchte, Kürbisberge und Kastanienmännchen. Herbst, das sind Kinder, die jubelnd in Laubhaufen springen und in Pfützen hüpfen. Blätter, die durch die Luft wirbeln, warmes Licht.

Herbst, das ist aber auch: Der kahle Zweig. Das nasse Ahornblatt am Boden, fleckig, eingerissen. Herbst: Das sind Tage, die dunkel beginnen, dunkel enden und auch in ihrer Mitte dem Licht keinen Raum geben wollen. Tage, in denen unaufhaltsam zu Ende geht, was im Sommer unsterblich schien.

Der Herbst erzählt von stürmischer Freude ebenso wie von großer Traurigkeit. Er birgt die Dankbarkeit für das, was ist und was war, ebenso wie den Schmerz über das, was verloren ist. Der Herbst führt uns die Schönheit des Lebens vor Augen – und unsere Vergänglichkeit.

Schillernde Jahreszeit. Auch in der Musik kommt die ganze Bandbreite ihrer Stimmungen zum Ausdruck: Da klingt der Herbst einmal spielerisch, voller Heiterkeit. Dann wieder kommt er dramatisch daher, setzt die stürmischen Winde in wilde Läufe um. Es gibt die zarten Herbstmelodien, melancholisch, herzerweichend schön. Und es gibt die Weisen, die dem unabwendbaren Fall der Blätter ebenso Takt und Klang verleihen wie der ganz eigenen Leichtigkeit dieser Tage. Das Klavierstück "In Autumn" von Amy Beach gehört für mich dazu.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Auch in der Bibel wird der Lauf der Jahreszeiten thematisiert: Eins geht ins andere über, Werden und Vergehen. Alles hat seine Zeit: pflanzen und ausreißen, was gepflanzt wurde, geboren werden und sterben. Ein Trost, ein Halt dabei: Hinter dem Wechsel und Wandel steht Gott. Er sorgt sich um seine Schöpfung. Gott erhält den Kreislauf des Lebens. Am Ende der biblischen Erzählung von der Sintflut steht Gottes Versprechen: "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht."

Man kann diese Aufzählung im Sinne von sechs Jahreszeiten deuten: Alles, was es braucht auf der Erde, alles, was zu beobachten ist in der Natur, ist damit genannt. Und in den religiösen Festen im Jahreslauf wird es auf besondere Weise in Beziehung gesetzt zum Leben des Menschen und seinem Verhältnis zu Gott. Gerade jetzt, im Herbst.

Ich denke an das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana, übersetzt: "Haupt des Jahres". Es wird im September oder Anfang Oktober gefeiert. Mich berühren die Impulse und Rituale dieses Festes. Einige ihrer Gedanken entdecke ich in christlichen Festen der Herbstmonate wieder.   

Da gibt es an Rosch ha-Schana den Taschlich-Brauch. Taschlich, das kommt von Werfen: Alle Sünden, alle Dinge, die einen Menschen belasten, werden symbolisch in fließendes Wasser geworfen, damit Gott den Menschen davon befreit und der Mensch anders weiterleben kann.

Der Herbst als die Zeit, in der ich selbstkritisch auf mein Leben blicke: Ich prüfe, ob das, was ich tue, in Gottes Sinn ist. Im evangelischen Buß- und Bettag kommen diese Gedanken zum Tragen. Ebenso wie in den Bibeltexten für die Sonntage im November, mit denen das Kirchenjahr endet. Auch in ihnen geht es darum, zu erkennen und loszulassen, was mich am Leben hindert. So, wie die Bäume in diesen Wochen ihre Blätter abwerfen, um im Winter nicht unter Wassermangel zu leiden. Sie tun es, um zu überleben.

Ein weiterer jüdischer Brauch an Rosch ha-Schana: Es gibt einen Apfel, der in Honig getunkt ist. Er steht für die Hoffnung auf ein süßes neues Jahr. Ich denke an die saftigen Früchte an unseren Obstbäumen in diesem Herbst. Was für ein Segen. Pralle, rote Äpfel: Ich empfinde eine große Dankbarkeit für alles, was mir im Leben geschenkt ist, was mich erhält, was mich freut. Ich denke an den Psalm 104, wie er auch in diesem Jahr im Erntedankgottesdienst in unserer Kirche gelesen wurde. Ein Psalm voll Lob und Dank für die Schöpfung, für das Geschenk des Lebens.

Gott, du feuchtest die Berge von oben her, du machst das Land voll Früchte, die du schaffest. Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst, dass der Wein erfreue des Menschen Herz und sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke. […] Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit.  

Hier höre ich die ganze Fülle dieser Jahreszeit, der Zeit der Ernte, Zeit der Freude. Dann aber ändert sich der Tonfall. Die andere Seite des Herbstes als Jahreszeit und des Herbstes im Leben klingt an.

Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder Staub.  

Abrupt und nüchtern wird der Schrecken der Vergänglichkeit benannt. Diesen Gedanken gibt es auch in einer sanfteren Form: als Wehmut, als Herbst-Blues. Wenn ich weiß, dass die Sommertage unwiederbringlich vorbei sind. Wenn sie schon von ferne zu hören sind, die Lieder des Winters. "And soon I'll hear old winter's song". Schmerz und Sehnsucht. Fallende Blätter. Autumn leaves.     

Gerade einmal 45 Jahre alt war der amerikanische Jazzpianist und Sänger Nat King Cole, als er 1965 starb. Die Jahreszeiten eines Lebens richten sich nicht nach definierten Zeiträumen. Der Herbst kann kommen, obwohl ich mich noch im Sommer wähne. Er kann die heitere Zeit der goldenen Farben, der dankbaren Ernte überspringen und ganz plötzlich seine dunkle Seite zeigen. Er kann ohne Vorwarnung übergehen in einen Winter, auf den kein Frühling mehr folgen wird.

"Ich denke nicht, dass ich die Kleider noch einmal brauchen werde", sagt meine schwerkranke Bekannte. Sie erzählt mir, wie sie ihre Sommersachen im September in Kisten gepackt hat, so, wie jeden Herbst eben. Aber diesmal war es anders für sie. Es war, so hat sie es empfunden, ein Abschied für immer. Ich denke an ihre bunten Röcke, die leichten Blusen: Wie viele schöne Erinnerungen wohl mit jedem Kleidungsstück, das sie in die Hand genommen hat, verbunden waren? Erinnerungen an helle, leichte Tage. Es hat viele davon gegeben in ihrem Leben. Ob das ein Trost sein kann für sie? Jetzt, wo der Frost kommt?

Wie eine Rose blühet,
wenn man die Sonne siehet
begrüßend diese Welt,
die, eh der Tag sich neiget,
eh sich der Abend zeiget,
verwelkt und unversehens fällt:

So wachsen wir auf Erden
und denken groß zu werden,
von Schmerz und Sorgen frei;
doch eh wir zugenommen
und recht zur Blüte kommen,
bricht uns des Todes Sturm entzwei.

Spätherbstgedanken sind es für mich, die Andreas Gryphius sich in diesem Gedicht "Die Herrlichkeit der Erden" macht. Die Fragilität des Lebens war für ihn, den Barockdichter, traurige Selbstverständlichkeit. So viele Menschen seiner Zeit mussten ständig Verluste in ihren Familien verkraften. Frauen starben bei der Geburt ihrer Kinder oder im Wochenbett. Seuchen grassierten. Der Dreißigjährige Krieg verbreitete viel Leid und Tod. Das Leben ist brüchig. Das war allgegenwärtig damals, in Zeiten, in denen der Spätherbst so viel größer war als das Frühlingserwachen oder der Jubel des Sommers.

Vorsichtig ziehe ich das gekrümmte Blatt aus dem Herbstgesteck, das auf unserem Wohnzimmertisch steht. Ich lege es in meine Hand. Brüchiges Pergament, kaum fassbar, dass in ihm einmal die Farben des Sommers eingeschrieben waren. Vergangen, tot, was einmal war. Am Ende eines Jahres. Am Ende eines Lebens. Andreas Gryphius dichtet:

Auf, Herz, wach und bedenke,
dass dieser Zeit Geschenke
den Augenblick nur dein.
Was du zuvor genossen,
ist als ein Strom verschossen;
was künftig, wessen wird es sein?

Die eigene Vergänglichkeit sehen. Und trotzdem oder gerade deshalb: Auskosten, was der Augenblick schenkt. Herbstlich leben eben. Es gibt immer wieder Menschen, die mir zeigen, wie das gehen kann. Eine von ihnen ist die Schriftstellerin Gabriele von Arnim, Jahrgang 1946. Sie hat zehn Jahre lang ihren schwerkranken Mann begleitet. Das Buch, das sie über diese Zeit geschrieben hat, heißt: "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand". Ein Herbsttitel, wie ich finde.

Nach dem Tod ihres Mannes braucht Gabriele von Arnim Zeit, sich wieder zu sammeln. Wie weitermachen, jetzt, in dieser Lebensphase, in der einem die Zeit davonrinnt, in der der Winter des Lebens zunehmend seine eisigen Vorboten aussendet? "Der Trost der Schönheit" ist es, der die Schriftstellerin hält. Schönheit, die in jedem Augenblick entdeckt werden kann, im scheinbar noch so Kleinen. Gerade jetzt, in dieser Lebensphase. Es gibt noch so viel auszukosten auf dieser Welt, so vieles, was berührt, was Halt gibt. Intensiv muss es werden, das Leben, mehr als je zuvor. Gabriele von Arnim schreibt:

Im Alter dunkelt das Leben sich ein. Schnell noch ein bisschen Schönheit speichern, Farbe und Licht. Ich genieße die Septembersonne ja auch intensiver als die Julistrahlen, weil ich den kommenden Mangel schon ahne. 

Eine Freundin, so erzählt die Schriftstellerin weiter, habe ihr erklärt: Die Zeit des Werdens sei für sie in diesem Alter nun vorbei. Allein das Sein und Vergehen würden ihnen noch bleiben. Gabriele von Arnim sieht das anders und fragt: "Werden wir nicht bis zum Ende?"

Ich habe ein Vorbild. Eine Freundin, die mir kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag erklärte, sie wolle jetzt singen. "Bevor ich abzwitschere", sagte sie und hob ihre greisen Arme so hoch in die Luft, wie die alten Gelenke es möglich machten, "muss ich noch weiter werden." Energisch klopfte sie sich auf den Brustkorb. Sie werde jetzt Gesangsunterricht nehmen. Seither trällert und singt sie jeden Tag. Mit Lehrerin oder allein. […] Sie liebt das Singen und strahlt, wenn sie darüber spricht. Es sei ihr Altersglück, sagt sie.

Wir sterben, erzählt der Herbst. Aber bis es so weit ist, sollen wir leben. Lieben. Trauern. Und singen.

In unserem Wohnzimmer hängt eine Fotographie des Künstlers Walter Green. Sie entstammt seiner Bildreihe "Vergehen und Werden" und zeigt eine Pusteblume just in dem Moment, in dem ihre Samen sich von der Blüte lösen, gut zu sehen vor dem dunklen Hintergrund. Die Samen gruppieren sich im Fallen – zu zweit, zu dritt, einmal sind es fünf. Sie wirken, als würden sie tanzen. Ich stelle mir vor, ihre Leichtigkeit rührt daher, dass sie ahnen: Nach dem Vergehen wartet ein nie zuvor gekanntes Werden auf sie – wenn sie in die Erde fallen und aus ihnen neue Pflanzen hervorgehen. Das lässt sie tanzen, auch in diesem Moment des Abschieds.

Ich blicke noch einmal nach draußen, in den Garten. Manche der Blätter, die jetzt am Boden liegen, sind genauso gefallen wie die Samen der Pusteblume auf dem Bild: sanft aufgewirbelt vom Wind, tanzend einem neuen Werden entgegen. Andere Blätter wurden abgerissen in einer rauen Sturmnacht. Kein fröhlicher Tanz stand an ihrem Ende. Und dann gab es die, die gefallen sind, ohne, dass es dafür noch einen Luftstoß gebraucht hätte. Einfach, weil es an der Zeit war. Wohl die schönste Art zu vergehen. Sabine Naegeli beschreibt diese Art mit den Worten:

Wie ein Herbstblatt

sich leise löst

vom Baum,

so möchte ich

mein Leben lassen,

wenn die Zeit reif geworden ist.

Leicht möchte ich sein,

nicht festhalten wollen,

im Fallen noch

mich dir entgegenfreuen.

Ob mir das einmal vergönnt sein wird: dieses sanfte Fallen, voller Vertrauen? Dass ich nicht festhalten muss, sondern loslassen kann am Ende? Mich gar dem, was kommt, entgegenfreue?

Ich lösche die Kerze auf der Fensterbank. Es gibt sie auch jetzt, Mitte November, die Momente, in denen ich den Herbst liebe, in seiner brüchigen Schönheit. Es gibt aber auch immer wieder die Tage, in denen mich das Grau mitnimmt, Tage, in denen ich merke: Der nüchterne Blick auf das Vergehen allein reicht mir nicht. Ich brauche das Vertrauen darauf, dass noch etwas kommen wird nach meinem letzten Herbst, etwas, das über die Winterstarre hinausreicht, so wie die Frostkristalle, die nahezu unmerklich auf dunklen Blättern funkeln. Ich brauche sie, diese leise Hoffnung, wie sie der Theologe Michael Schibilsky beschrieben hat für einen Morgen wie diesen, bei einem Besuch auf dem Friedhof.

An einem ruhigen, kalten und sonnigen

Novembermorgen noch einmal dastehen,

ein Grabstein, ein umpflanztes Feld.

Rauhreif wird kommen,

sich auf die Tannennadeln senken

wie Kristalle und weißer Staub.

Auch meine Daten werden einmal stehen,

ein Anfang und auch ein Ende.

Ein Grabstein, 

ein umpflanztes Feld, sonnenbeschienen.

Grenzen und Strahlen, beides.

Bis Gottes Tag kommen wird

und er unsere Zeit aufhebt, in seine Hände nimmt,

sie aufhebt, und wir seine Liebe spüren.

Dann werden wir nicht mehr fragen,

dann werden wir seine Herrlichkeit sehen.


Herbstlich leben: Dem Tod nicht ausweichen, auch nicht meinem Namen auf einem Grabstein. Und zugleich wissen um die Sonne, die meine Tage reich und bunt gemacht hat. Herbstlich leben, das heißt: vertrauen darauf, dass Gottes Tag kommen und sein Licht auch über meinem Grab scheinen wird. Und dass auf mein Vergehen ein neues Werden folgt.  


Musik dieser Sendung:
1. Amy Beach Sketches Op. 15, In Autumn
2. 
Nat King Cole: Autumn leaves
3. Instrumental: "O Welt, ich muss dich lassen"
4. Herbstlied, Felix Mendelssohn Bartholdy

5. John Ceshire, Last rose of summer