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Es ist ein kleines Kreuz aus dunkelroter Wolle, ungewöhnlich in seiner Gestaltung. Schmal, fast gefällig liegt es in meinem Regal. Man könnte es als Lesezeichen nutzen, aber das schiene mir nicht passend. Die Geschichte, die es birgt, ist zu groß dafür.
Es war bei meinen ersten Gehversuchen als Pfarrerin, als ich eine schwerkranke Frau begleitet habe. Seit Monaten konnte sie nur noch liegen, allein den Kopf vermochte sie leicht zu drehen und etwas zu heben. Das tat sie, um die wenigen zu begrüßen, die kamen – den Sohn, den sie tröstete, die wechselnden Pfleger. Und mich, eine Anfängerin im Umgang mit einem Leid wie dem ihren: ohne Boden, ohne Hoffnung. Manchmal, wenn sie die Kraft dazu hatte, sprachen wir. Meistens war es still zwischen uns. Sie lag, ich saß bei ihr, und ich erinnere mich an einen Frühlingstag, als die Sonne ins Zimmer schien, warm und verheißungsvoll. Ihre Strahlen fielen auf sie, auf mich, die Sonne macht keinen Unterschied.
Unser Abschied voneinander war wenige Wochen vor ihrem Abschied von der Zeit. Bei mir stand die Geburt meines Kindes bevor. Bei ihr das Sterben. Wir wussten, dass wir uns das letzte Mal sahen. Ich hatte ihr ein kleines Kreuz mitgebracht. Schlicht, aus weichem Holz, fast quadratisch. Ein Kreuz, das gut in der Hand liegt. Man kann sich daran festhalten, wenn man Angst hat oder Schmerzen. Sie wollte, dass ich ihr dunkelrotes Kreuz aus Wolle, das auf ihrem Nachttisch lag, mitnahm. Es sollte mich begleiten bei der Geburt, dabei, das neue Leben willkommen zu heißen.
Die Frau starb. Ein Kreuz wurde ihr auf die kalte Stirn gezeichnet – dasselbe Zeichen, mit dem der Pfarrer wenig später meine Tochter segnete, während ich das kleine schreiende Bündel Leben über dem Taufbecken hielt.
Das Kreuz. Anfang und Ende. Anfang ohne Ende. Vielstimmig, schillernd, nicht zu fassen, Zeichen des Leids und der Hoffnung zugleich. Das Kreuz, an dem „das Leben den Tod ertrug und durch den Tod das Leben wieder gab“, wie der Hymnus der Vesper in der Passionszeit es beschreibt.
Das Kreuz. Es ist der Ort des Leidens und Sterbens. Zugleich aber, so wird es in Hymnen besungen, weist sein Holz zurück auf den Beginn der Geschichte Gottes mit den Menschen. Die Balken beginnen zu blühen, Duft ergießt sich aus der Rinde, das Kreuz wird eins mit einem ganz besonderen Baum – dem Baum der Erkenntnis, an dem der Mensch zu Beginn der Zeit das Paradies verlor. Es ist, als würde die Passion zu einem Spiel mit umgekehrten Vorzeichen: Der Mensch scheiterte einst am Baum daran, wie Gott zu werden. Nun begibt Gott sich an dasselbe Holz und wird Mensch. Der Tod ist besiegt, der Kreis schließt sich, und das Kreuz wird zum Hoffnungszeichen, segnend geschlagen über der Toten und über dem Neugeborenen.
Marterpfahl und Lebensbaum zugleich: Das Wechselspiel von Leid und Lebensleidenschaft, das sich im Kreuz wie in einem Brennglas bündelt, durchzieht die Passionsgeschichte von Anfang bis Ende. Allzu oft wird in ihr nur der Schmerz, nur der Tod gesehen, wie der Pfarrer und Lyriker Kurt Marti mahnend anmerkt:
„Nicht zu vergessen: Passion bedeutet nicht nur Leiden, sondern ebenfalls Leidenschaft. Die Leidenschaft Jesu hat ihm Verfolgung, Verhaftung und ein im Eilverfahren gefälltes Todesurteil eingetragen. Seine Leidenschaft war, wie die Osterereignisse zeigten, nicht umzubringen, nicht auszulöschen. […] Ob innerhalb oder außerhalb der Passionszeit: Sprechen wir doch mehr und womöglich besser, engagierter, von der Leidenschaft Jesu Christi!“ (1)
Die Passionsgeschichte zieht vor meinem inneren Auge vorüber. Die Sinne geschärft, entdecke ich in ihr mehr und mehr an Momenten der Welt- und Lebensleidenschaft – manchmal nur in einem Satz, manchmal in einer kleinen Szene. Zarte, dann wieder kräftige Farbtupfer auf dunklem Grund.
Da ist die Frau, die Jesus mit kostbarem Öl salbt. Die Umstehenden sind fassungslos: Was für eine Verschwendung. Aber der Todgeweihte lässt ihn geschehen, diesen Moment zärtlicher Fürsorge, diesen Augenblick der Schönheit des Lebens. Da ist die letzte Feier Jesu mit den Jüngern am Abend des Verrats. Jesus reicht den Freunden Brot und Wein, Lebensmittel, weil sein Tod Mittel zum Leben wird für sie. Da ist Simon von Kyrene, der das Kreuz trägt, hinauf nach Golgatha, ein Begleiter im Leid. Und da ist der Gottessohn, der noch sorgt für andere, während er am Kreuz hängt, weil er am Leben hängt, bis zuletzt.
Über der Tür zu meinem Arbeitszimmer ist ein buntes Kreuz aus Ton angebracht. Meine Schwägerin hat es aus Mexiko mitgebracht. Wie so viele der Kreuze dort – oft bemalt mit Landschaften, Menschen, Tieren – erzählt es von der Sehnsucht nach einem Leben in Gerechtigkeit, von Frieden und vom Einklang mit der Schöpfung. Hoffnungen, gezeichnet auf den Grund des Kreuzes, weil die Geschichte die Männer und Frauen in Lateinamerika auf besondere Weise gelehrt hat, dass sie ihrem Glauben, ihrem Einsatz für eine Welt in Gottes Sinn oft nicht ohne Leiden folgen können. Der Politiker und Priester aus Nicaragua Miguel d’Escoto hat einmal darüber gesprochen, was „sein Kreuz tragen“ bedeuten kann. Er hat das Kreuz dabei als unausweichliche Konsequenz gesehen, wenn Menschen versuchten, so zu leben, wie sie geschaffen sind: als Töchter und Söhne Gottes. Es ist die Liebe Gottes, die den Einsatz für Gerechtigkeit fordert. Dafür, so d’Escoto, steht das Kreuz. Und ist gerade darin eine Einladung zu neuem Leben:
„Daß wir uns daran gewöhnen, das Kreuz sogar mit Freude zu sehen, ist die höchste Geste des Lebens, weil das Leben die Liebe ist. […] Der Herr möge uns von der lähmenden Angst befreien und uns gründen in dieser Liebe, dieser Passion für die Gerechtigkeit, in diesem Feuer, denn er hat gesagt, daß er Feuer bringen würde, das in unseren Herzen angezündet werden sollte.“ (2)
Aufbegehren und Hingabe. Schmerz und Sehnsucht: Der Tango, dessen Wurzeln bezeichnenderweise in Lateinamerika liegen, gibt diesem Wechselspiel seine Choreographie, seinen Klang. Im „Tanz der Seele“, wie er auch genannt wird, klingt für mich auf ganz eigene Weise etwas an vom Wesen der Passion.
Das Kreuz rüttelt wach, ruft auf, der Sehnsucht nach einer anderen Welt Taten folgen zu lassen. Es ruft ins Risiko, das zum Wesen jeder Leidenschaft gehört.
Mein Blick wandert wieder weg von dem Tonkreuz über meiner Tür, hin zu dem dunkelroten Kreuz aus Wolle, dem Vermächtnis der Sterbenden. Was mag sie empfunden haben, wenn sie in den vielen einsamen Stunden mühsam ihren Kopf zur Seite drehte und dabei auf das Kreuz blickte, neben sich auf dem Tisch? Vielleicht hat sie darin gesehen, was auch unzähligen anderen, die leiden, das Kreuz war und ist: Ein Ort, an dem sie weniger allein sind mit ihrem Schmerz. Weil der Gekreuzigte kennt, was sie erleben müssen.
Bis ins Spätmittelalter hinein haben die Bilder in den Kirchen vor allem von Christus als dem strahlenden König, dem Sieger über den Tod erzählt. Es hat gedauert, bis man ihm den Schmerzensmann zur Seite stellte. Mit ihm durfte das Leid sichtbar werden – sein Leid, aber auch das der Menschen. Seine Qualen wurden die ihren, ihre Qualen die seinen. Damals. Und heute. Das Kreuz stiftet eine Verbundenheit über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Der Theologe Jürgen Moltmann beschreibt es mit den Worten:
„Leiden werden durch Leiden überwunden und Wunden durch Wunden geheilt. Denn das Leiden im Leiden ist die Lieblosigkeit, und die Wunde in den Wunden ist die Verlassenheit, und die Ohnmacht im Schmerz ist der Unglaube. Darum werden die Leiden der Verlassenheit durch das Leiden der Liebe überwunden, die das Kranke und Häßliche nicht scheut, sondern es annimmt und auf sich nimmt, um zu heilen.“ (3)
Wenn das eigene Leid mit dem des anderen zusammengeht, dann kann daraus ein besonderer Trost entstehen. Der Bayreuther Komponist Michael Lippert hat diesen Gedanken in einer Klangcollage verarbeitet. Da sind Akkorde, die an die Schmerzgrenze gehen, dann wieder zarte Weisen. Nach und nach wird darin ein altes Wiegenlied hörbar, es entsteht eine Geborgenheit, die aus dem Miteinander der Klagen erwächst. Und die ihnen doch schon immer zugrunde lag.
Es gibt Momente, es gibt Zeiten, da tönen die Dissonanzen so laut, dass vom Grundton der Liebe nichts mehr zu hören ist. In der Klangcollage. Im Leben. Was ist, wenn das Leid überhandnimmt, wenn da nur noch Klage ist, ohne Antwort? Wo ist Gott dann – für die Menschen, für den eigenen Sohn? Ist er da für sie, für ihn? Nein, sagt Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Der Ölbaum-Garten“, und er legt dieses Nein dem Gottessohn in den Mund, wie er allein ist in der Dunkelheit von Gethsemane und zum Vater spricht, den er vermisst.
„Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.
Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. O namenlose Scham...[…]“ (4)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wenn das Matthäusevangelium von dem Schrei Jesu am Kreuz erzählt, ist Jesus nicht der erste und nicht der letzte, der mit diesen Worten klagt. Jahrhunderte vor ihm schon haben diese Verse des 22. Psalms den Verzweifelten eine Sprache geliehen – und sie tun es bis heute. Der Theologe Fulbert Steffensky meditiert:
„Warum, [Gott], antwortest Du nicht? Eine Antwort hat jeder verdient: der Kranke mit seinem Schrei in der Nacht; die am helllichten Tag Vergewaltigte mit ihrem verzweifeltem Hilferuf; der von seiner Schuld Gequälte, dem die Nächte lang werden; die Verlassene, die Tag und Nacht von den Bestien der Einsamkeit umlauert ist. Eine Antwort hat jeder verdient. Weil der Mensch ein Mensch ist, geben ihm seine Schreie das Recht, gehört zu werden. Wer will denn gleich von Erhörung sprechen! Aber, mein Gott, hören könnte doch einer! Oder ist das schon zuviel verlangt? Wer gibt ihm das Recht auf seine Stummheit? Wieso nimmt er sich dieses Recht?“ (5)
Das Kreuz wirft Fragen auf, immer wieder. Darunter auch eine kühne Frage, die der Lesart folgt, dass Jesus für die Sünden der Menschen gestorben ist. Ist es denkbar, dass Jesus nicht nur am Kreuz hängt, weil die Menschen seine Liebe verraten haben, sondern auch, weil sein Vater, weil Gott stumm blieb und bleibt angesichts all des Leids? Könnte es sein, dass nicht nur die Menschen auf Gottes Vergebung angewiesen sind, sondern dass auch Gott am Kreuz um die Vergebung der Menschen bittet?
Die Deutung der Passion ist vielstimmig. Theorien und Denkgebäude fallen in sich zusammen, wenn sie nicht spürbar werden am Bett der Sterbenden, in den Abgründen des Lebens. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Von allen möglichen Antworten hänge ich an dieser: Er hat es nicht getan, Gott hat seinen Sohn, er hat die Menschen nicht verlassen. Er ist mittendrin im Leid: In der Verzweiflung der Kranken. Im Riss, der durch das Herz der Trauernden geht. Im Schrecken des Krieges. Im Schrei des Gekreuzigten. Er ist dabei. Als von Gott verlassener Gott.
Die Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz. Josef Haydn hat sie vertont, so, wie sie die Evangelien überliefern. Und alles schwingt in ihnen mit, was die Passion ausmacht: das Wechselspiel von Fürsorge und Einsamkeit, von Aufbäumen und Ergebung, von Leid und Leidenschaft. Da ist die Sorge Jesu um die anderen bis zuletzt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Zur Mutter und zum Jünger gewandt: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ und: „Siehe, das ist deine Mutter“. Da ist der Wille zum Leben: „Mich dürstet“. Da ist der Glaube, dass das Ende nicht das Ende ist: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ Dann: Ein letztes Aufbäumen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ergebenheit: „In Deine Hände Herr, befehle ich meinen Geist.“ Und schließlich: „Es ist vollbracht.“
Ein letztes Wort. Ein letzter Schrei. Und dann ist es still auf Golgatha.
Still wie am Bett eines Toten. Es gibt nichts mehr zu tun, zu sagen. Der Tod ist groß, alles andere ist nichtig und klein. Eine endgültige Stille. Eine Leere. Weil mit dem Toten eine ganze Welt unwiderruflich verschwunden ist.
Still ist es auf Golgatha. Still auch wie am Bett einer Mutter, im Augenblick unmittelbar nach der Geburt. Wortloses banges Warten auf ein erstes Lebenszeichen des Neugeborenen. Der Schmerz des Gebärens spielt keine Rolle mehr, jetzt zählt nur eines: Dass es sich ins Leben schreit, das Kind. Die Zeiger der Uhren stocken, bleiben stehen, bis dann, mit einem Schrei eine neue Zeitrechnung beginnt. Und wir aufatmen, glücklich, erlöst.
Die Stille auf Golgatha birgt beides: die Stille nach dem letzten Schrei. Aber auch: Die Stille vor dem ersten Schrei. Das Leid schafft es nicht, die Leidenschaft am Leben verstummen zu lassen.
Und so flüstern sie sich bald schon ein in die Totenstille: die ersten Stimmen zaghafter Hoffnung. Da sind die Schritte des Josef von Arimathäa, der sich aufmacht, um den Leib Jesu in ein Leinentuch zu hüllen und in ein Grab zu betten. Da werden die leisen Stimmen der Frauen hörbar, die gemeinsam hingehen zum Grab. Die Vögel mögen gezwitschert haben in der aufgehenden Sonne des Ostermorgens, mehr und mehr Klänge, ein Crescendo des Lebens, bis hin zum Ruf des Engels: Fürchtet euch nicht. Er ist auferstanden.
Ich denke an ein Altarbild in einer finnischen Kirche. In seinem Zentrum: ein Kreuz. An ihm hängt, wie hingeworfen, ein großes weißes Leinentuch – das Tuch, in das der Leichnam Jesu gewickelt war. Er braucht es nicht mehr, nachlässig fast scheint er es über das Kreuz geworfen zu haben, so, wie meine Tochter ihre Jacke über den Stuhl wirft, wenn die Sonne scheint, und sie dann rasch wieder nach draußen eilt. Auch der Gottessohn scheint es in diesem Bild eilig gehabt zu haben, das abzulegen, was ihn einengt. Um sich dann wieder neu hineinzubegeben ins Leben, voller Liebe. Voller Leidenschaft.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Capella Antiqua München (Dirigent: Konrad Ruhland), Vexilla Regis Prodeunt, CD-Titel: Gregorian Chants
2. Eckart Runge (Cello), Jaques Ammon (Piano) (Komponist: Astor Piazzolla), Le Grand Tango, CD-Titel: Piazzolla & Cello Passion
3. Michael Lippert (Komponist: Michael Lippert), Wiegenlied, CD-Titel: Oratorium DER VIERTE KÖNIG
4. Quatuor Debussy (Komponist: Josef Haydn), Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Sonata IV), CD-Titel: The Seven Last Words (Die sieben letzten Worte unseres Erlösers) https://www.youtube.com/watch?v=kMbGWPaXX8Y
5. Silke Aichhorn (Komponist: John Thomas), The Tear, CD-Titel: Denn es will Abend werden... Reflexionen zu Abschied und Ewigkeit
Literaturangaben:
1) Kurt Marti, Gott im Diesseits, Stuttgart 2012, S.82.
2) Dorothee Sölle, Gott denken, Stuttgart 1990, S.170.
3) Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott, München 1972, S.48f.
4) R.M. Rilke, Neue Gedichte, Leipzig 1907, S.19.
5) F. Steffensky, Heimathöhle Religion, Stuttgart 2015, S. 101.