"Ich lege mich zu meinen Ahnen." So sagte der alte, weise Mann im Herkunftsdorf unseres Autors in Kamerun. Welche Vorstellungen helfen, um mit dem Tod umzugehen?
Sendetext nachlesen:
Tita Tscha gehörte zur Riege der alten Männer in meinem Dorf. In Südkamerun war das; dort verbrachte ich meine Jugend. Mit Tita Tscha zusammen erhaschte ich sachte Einblicke in die alten Denkweisen unseres Volkes. Eindrücke, die in Gefahr waren, vergessen zu werden. Erfahrungen, von denen niemand mehr wüsste.
Das Versöhnungsritual zum Beispiel wurde seit Jahrzehnten nicht mehr praktiziert. Es soll aber früher eine Schlüsselrolle im Dorf gespielt haben. Dafür zogen sich die Ältesten zehn Tage tief in den Wald zurück. Zum Schluss haben sie feierlich gemeinsam gegessen. Das zeigt: Im Dorf herrscht wieder Einheit.
Nun aber führte niemand mehr diese Versöhnungszeremonien durch. Die Leute im Dorf sprachen immer weniger über diese alten Rituale. Auch Tita Tscha erzählte nur noch, wenn man ihn mit Fragen löcherte.
Als Jugendlicher habe ich mir Sorgen gemacht, dass die alten Traditionen verschwinden. Ich dachte: Dann kommen wir eines Tages in eine Zukunft, der die Vergangenheit fehlt. In meiner Vorstellung war ein positives Wohin an das Wissen um unser Woher gekoppelt. Deswegen gehörte ich zu denen, die Tita Tscha immer wieder aufsuchten und seinen Geschichten von früher lauschten.
Eines Tages, als ich schon längst erwachsen war und in Deutschland lebte, besuchte ich Tita Tscha während meines Urlaubs in Kamerun. Ich fragte ihn, wie alt er sei. Meine banale Frage schien Tita Tscha zu freuen. Er lächelte. Ich war ganz Ohr, als Tita Tscha mit strahlenden Augen sagte: "Weißt du, ich bin jetzt 96 Jahre alt." Er machte eine Pause und sah mich fragend an. Ich vermute, er wollte sich vergewissern, dass ich ihm folgte. Ich nickte.
Als würde er eine Kostbarkeit enthüllen, setzte er mit ruhiger und leiser Stimme fort: "Vier Jahre noch, dann bin ich hundert." Er führte die Hände so zusammen, dass sich alle zehn Finger paarweise berührten. Wieder machte er eine Pause, lächelte und wiegte seinen Kopf. "Dann … dann werde ich mich zu unseren Ahnen legen. In vier Jahren. Sie bereiten sich jetzt schon auf mich vor, und ich mich auf sie. Dann werde ich zu ihnen gehen und mit ihnen sein."
Danach war es lange still. Tita Tscha schaute mit einem Lächeln zu Boden. Ich schaute auf den alten Mann. Ich war erstaunt über das, was er gesagt hatte. Wie kann er wissen, wann er stirbt? Und dass dann seine Ahnen auf ihn warten? Mich hat beeindruckt, wie gelassen er seinem Ende entgegensah.
In seinen Worten lagen weder Sehnsucht nach dem Tod noch Traurigkeit darüber, dass sein Leben zu Ende geht. Es war einfach eine Feststellung: In vier Jahren lege ich mich zu meinen Ahnen. Ein ruhiger Blick und ein Lächeln dabei.
Als dieser alte weise Mann jung war, hat ihn da auch ein Älterer von seiner Lebensweisheit erzählt? Und sieht er es jetzt als seine Aufgabe an, diese Lebensweisheit an mich, den Jüngeren, weiterzugeben? Damit ich sie eines Tages entschlüsseln und verstehen kann? Und weitergebe?
Ich bin mir sicher: Tita Tscha wollte nicht nur über seinen eigenen Tod sprechen. Er wollte mir auch etwas davon erzählen, wie er Leben und Sterben versteht und was er über den Tod hinaus erwartet. Er war zuhause in der alten Vorstellungswelt unseres Volkes in Südkamerun.
Davon wollte Tita Tscha mir etwas weitergeben. Für mein Verhältnis zum Sterben. Ich sollte für mich und meine Zukunft mitnehmen, was der Tod tatsächlich ist. Nämlich ein "Sich zu den Ahnen legen". Als sei Sterben nichts Anderes als eine traute, urgemütliche, ja kuschelige Angelegenheit. Man bildet wieder eine angeschmiegte Einheit mit den Menschen, die man lange vermisst hat. Die Botschaft des alten, weisen Tita Tscha: Sich zu den Ahnen legen. Eine ergreifende und wohltuende Vorstellung des Sterbens.
Sterben als wichtigen Teil meines Lebens erkennen – wie kann ich mir das vorstellen? Entkommen kann ich dem Tod nicht. Wie also kann ich ihn ins Leben integrieren? Wie kann ich ihm ohne Angst entgegengehen?
Das sind Fragen, die sich Menschen seit jeher stellen. Entsprechend unterschiedlich fallen die Antworten aus. Der Tod berührt mehrere Ebenen unseres Denkens und Fühlens.
Biologisch gesehen wird er zum Gegner. Der Tod greift den Menschen regelrecht an und richtet sich dabei gegen unsere instinktive Grundausrichtung, Leben zu erhalten. Hat er uns aber erfasst, ist das unumkehrbar. Wir können den Tod nicht verhindern, was auch immer wir in unserem Leben gegen ihn unternehmen.
Ohnmacht, Kontrollverlust, Ungewissheit gehen mit dem Tod einher. Ebenso der Gedanke: Das eigene Ich hört irgendwann auf zu existieren. Das erschreckt. Der Tod konfrontiert uns nicht mit der Endlichkeit, sondern er lässt uns Teil der Endlichkeit werden.
Wir wissen nicht, ob er mit Schmerzen kommt. Jetzt schon wissen wir: Der Tod der Menschen, die wir lieben, bereitet uns seelische Schmerzen. Mascha Kaléko hat gedichtet: "Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Der Gedanke an den Tod löst viele Fragen aus. Und Angst. Ich versuche, erfinderisch mit dieser Angst umzugehen.
Mit dem Glauben daran, dass nach dem Tod etwas lange Ersehntes auf uns wartet – so wie das "Sich zu den Ahnen legen". Oder das Paradies im Christentum und im Islam.
Im Hinduismus ist es die Vorstellung von der Reinkarnation. Geburt, Tod und Wiedergeburt der Seele bilden einen fortlaufenden Zyklus. Damit verbunden ist eine tröstliche Perspektive: Wer sich im jetzigen Leben gut verhält, kann sich nach dem Tod zu einem immer höheren Wesen entwickeln.
Andere Völker pflegen Rituale, mit denen eine "Welt der Toten" so nahe an die Lebenden rückt, dass die Berührungsangst mit dem Tod in eine feierliche Vertrautheit übergeht. Am "Dia de los Muertos", zu Deutsch am "Tag der Toten", begehen etwa die Menschen in Mexiko jährlich ein solches Ritual. Ein Ritual gegen die Angst erzeugende Allmacht, die der Tod sonst über uns hat.
Angst vor dem Tod hatte auch Jesus. Das steht in der Bibel. Erstaunlich fürs Neue Testament: Es beschreibt Jesus als Gottes Sohn. Wer, wenn nicht Gottes Sohn sollte wissen, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist, dass nach dem Tod sich alles zum Guten wendet? Trotzdem erzählen die Evangelisten intensiv von der Todesangst, die Jesus hatte. Im Matthäusevangelium steht:
"Und er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich. Da ergriff ihn Traurigkeit und Angst und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!" Matthäus 26,37-28 Einheitsübersetzung)
Auch der Evangelist Lukas erzählt:
"Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte." (Lukas 22,43 Einheitsübersetzung)
Die Angst vor dem qualvollen Tod am Kreuz - sie ereilte auch Jesus in den Stunden, bevor sein Leidensweg begann. In den Evangelien zeigt das: Jesus, Gottes Sohn, war wirklich ganz Mensch. Er hat erlebt und erlitten, was wir durchmachen. Aber er blieb nicht gefangen in der Angst. Er hat den Weg geöffnet, der aus der Angst durch das Sterben hindurch zu neuem Leben führt. Das ist die christliche Vorstellung: Nicht der Tod triumphiert, sondern das Leben.
Wie gehe ich mit meiner Angst vor dem Sterben um? Ein Gespräch mit einem mir sehr wichtigen Menschen hat mir dabei geholfen. Ich nenne diesen Menschen Elfriede. Der Ort unseres Treffens ist ein Hospiz, ein Haus für unheilbar kranke Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Elfriede lebt hier seit gut vier Wochen. Sie hat an diesem Ort innere Ruhe gefunden. Ihr Blick ist sanft und ihr Lächeln offen. Meine vielen Fragen beantwortet sie bereitwillig.
Mein Thema? Die Angst vor dem Sterben. Sie spricht das Wort aus: "Die Angst." Danach macht sie eine kurze Pause. Dann sagt sie: "Die Angst war mein größtes Problem, als ich die Diagnose erfuhr. Mittlerweile habe ich kaum noch Angst." Warum? "Es ist die Art, wie hier mit mir umgegangen wird. Hier im Hospiz wird der Tod nicht verdrängt. Niemand tut so, als wäre er ein Tabu.
Die Schwestern reden offen mit mir, hören mir zu, wenn ich von meinen Sorgen erzähle, und nehmen mich ernst. Ich hätte nie gedacht, dass mir das so guttun würde."
Elfriede fühlt sich geborgen. Ich spüre bei ihr, wie wichtig andere Menschen sind, die für einen da sind und einem Kraft geben. Elfriedes bereits sehr geschwächter Körper und ihre Seele hätten diese Kraft nicht alleine aufgebracht. Die liebevolle Präsenz ihres Umfelds spürt sie auch körperlich. "Ich muss nicht stark sein oder so tun, als wäre alles in Ordnung", sagt sie. Sie dürfe einfach sie selbst sein. Das nimmt viel Angst von ihr.
Zum Umfeld der 68-Jährigen gehört ihre Enkelin. Das Mädchen hat ein Bild gemalt, einen bunten Schmetterling für die Großmutter. Elfriede zeigt es mir. "Jedes Mal, wenn meine Enkelin hereinkommt, geht für mich die Sonne neu auf", sagt Elfriede. "Ich kann noch fühlen, lieben, lachen – das tut mir gut. Es gibt mir das Gefühl, dass ich nicht ins Nichts gehe; das Leben trägt mich sanft weiter."
Worüber will man sprechen, wenn man weiß: Es bleibt nicht mehr viel Zeit? Elfriede sagt: "Am meisten erzähle ich den Schwestern im Hospiz von meinen drei Kindern. Dass ich manchmal nachts wachliege und mich frage, ob sie ohne mich zurechtkommen. Ob sie sich untereinander stützen oder sich vielleicht entfremden, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe auch Sorgen, die ich meiner Familie nicht sagen möchte – zum Beispiel, dass ich Angst habe, sie mit meinem Tod zu belasten."
In ihren Gesprächen mit den Hospiz-Schwestern geht es auch um den Tod selbst. Was passieren wird, wenn es so weit ist. Elfriede will vorbereitet sein, will wissen, ob es wehtun wird, wie es sich anfühlt, wenn der Körper aufhört zu kämpfen.
Die Schwestern hören einfach zu. Sie widersprechen nicht, sie reden nichts schön. Manchmal nehmen sie Elfriedes Hand. Manchmal sagen sie nur ein paar leise Worte. Manchmal weinen sie mit ihr. Das macht es leichter, sagt Elfriede. "Es ist, als dürfte ich meine Sorgen aus mir herauslegen, und jemand hilft mir, sie zu tragen."
Es tat mir gut, Elfriede zuzuhören. Zu sehen, wie die Gemeinschaft sie in dieser schweren Zeit trägt. Nicht immer während unseres Gesprächs war sie die in sich ruhende, starke Frau. Da gab es Ängste und Sorgen. Teil einer Familie zu sein, die sie bald endgültig verlassen würde - das setzte ihr am meisten zu. Ich konnte sie gut verstehen. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie es für mich sein wird, wenn ich einmal in dieser Situation bin. Da hilft, was Elfriede erlebt hat: Menschen an der Seite haben, die zuhören, die Freude mitbringen, die das Fachwissen haben, um die letzte Lebensphase erträglich zu machen, vielleicht sogar zu einer kostbaren Zeit. Für Elfriede waren die Schwestern im Hospiz und ihre Enkelin ihre Brücke zum Leben. Ihre letzte Zeit hat sie immer wieder als Weg bezeichnet. Ein Weg ins Unbekannte, aber sie müsste ihn nicht allein gehen, sondern war liebevoll begleitet.
Einem Menschen zuhören, seine Hand halten, ihm mit den Augen, mit dem Gesicht signalisieren: Ich bin bei dir. Die Schwestern im Hospiz haben nicht nur seelsorgerliche Gespräche mit Elfriede geführt.
Sie waren auch ohne viele Worte an ihrer Seite. Sie fühlten ihren Pulsschlag, atmeten in ihrem Rhythmus, haben sich nach dem gerichtet, was für Elfriede in diesem Moment wichtig war und ihr gut tat.
Elfriede hat an die Auferstehung nach dem Tod geglaubt. Sie hatte die Hoffnung: Nach dem Tod beginnt ein neues Leben bei Gott. Wie das sein wird, wie das aussieht, darüber wollte sie gar nicht viel reden. Es war ihr zu mystisch, zu abstrakt.
Es hat sie beeindruckt, wie im Hospiz das nahende Sterben zu einem Weg ins Leben werden konnte. Zu der Gemeinschaft im Hospiz gehören viele. Es ist ein Netzwerk aus Therapeut:innen, Seelsorger:innen, Ärzt:innen, Ehrenamtlichen. Die Gäste im Hospiz selbst, also die Menschen in ihrer letzten Lebensphase sowie ihre Angehörigen gehören genauso dazu.
Es gibt das Sprichwort: "It takes a village to raise a child." Es braucht ein Dorf, um einem jungen Menschen ins Leben zu helfen. Das kann man auch für das Ende sagen: Es braucht ein Dorf, um einen Menschen aus dem Leben heraus zu begleiten.
Im Hospiz hat darum die Begegnung Vorrang vor Therapie oder Sachgesprächen. Für Elfriede trat der Alltag zurück. Dafür gerieten Menschen in ihren Fokus. Die Zeit erlebte sie intensiver. Jedes Gespräch, jede Berührung, jede Erinnerung erfuhr eine lebensspendende Dimension.
Die Gemeinschaft gab Elfriede ihre Würde zurück. So hat sie es formuliert. Ich würde zwar sagen: Würde kann man nicht verlieren, weil Gott sie uns gibt. Aber das war Elfriedes Gefühl: Sie hatte Angst, nicht würdevoll sterben zu können. Aber im Hospiz hat sie Sterben nicht mehr als Last empfunden – oder gedacht, sie würde anderen zur Last fallen. Sie war eine Person, die selbstbewusst ihren Namen neu durch das Leben trug.
"Hier habe ich das Lachen wieder entdeckt", sagte sie, lachte und fügte hinzu: "Manchmal lachen wir hier über die kleinen Dinge – über die Macken unserer Körper, über alte Geschichten, die wir uns erzählen, oder über die eigenartigen Dinge, die im Alltag hier passieren. Humor bricht die Schwere des allgegenwärtigen Themas und lässt es leichter ertragen. Wenn wir lachen, selbst über unsere eigene Sterblichkeit, dann fühlen wir uns lebendig, auch wenn wir wissen, dass die Zeit begrenzt ist."
Elfriede sagte mir später: Das Eigenartige am Humor ist, dass er Angst und Trauer zurückweichen lässt. Das hilft, den Tod nicht nur zu fürchten, sondern als Teil des Lebens zu akzeptieren.
Elfriede konnte annehmen, dass andere Menschen für sie da sind. Dadurch hat sie ihre Souveränität zurückgewonnen. Sie konnte den Grund ihrer Angst vertreiben oder auch herbeiholen. Sie konnte dem Tod einen Platz in ihrem Leben geben.
Das Gespräch mit Elfriede war für mich eine Offenbarung. Ich habe die Kraft der Gemeinschaft entdeckt und gelernt, sie neu zu würdigen. Ich hoffe darauf, dass ich einmal solche Gemeinschaft erlebe, wenn das letzte Stück Weg für mich beginnt.
Wenn ich mich zu meinen Ahnen lege und diese mich schon erwarten, wie es Tita Tscha, der alte weise Mann in dem Dorf meiner Kindheit in Kamerun gesagt hat.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Bach, Cello Suite Nr. 2, I. Prélude
2. Bach, Cello Suite Nr. 2, IV. Sarabande
3. Bach, Cello Suite Nr. 3, IV. Sarabande
4: Bach, Cello Suite Nr. 1, I. Prélude