Spurensuche
Nothelfen – Ein inspirierendes Handeln
12.02.2022 09:00

Seit 2009 gilt der 11. Februar als Europäischer Tag des Notrufs. Der Grund für diese Datierung ist, dass darin die EU-weit geltende Notrufnummer 112 enthalten ist. Mit dem Notruf ist der Anspruch verbunden, sich tatkräftig, zügig und vor allem gut durchdacht dafür einzusetzen, dass akut bedrohtes Leben gerettet wird. Sowohl die anrufende Person als auch das Einsatzpersonal machen hochstressige Momente durch. Effizienz, Eile und Stressabbau auf beiden Seiten dominieren in den Bemühungen der Einsatzzentrale. Am Ende muss ein Einsatz möglich sein, der reibungslos und erfolgreich verläuft.

Nothelfen gehört zum Menschsein

Der Ursprung fürs Nothelfen scheint im Wesen des Menschen selbst zu liegen. Die Notlage eines anderen erkennen, lindern und womöglich beseitigen – der Impuls begleitet das soziale Wesen Mensch in seiner Geschichte. Dies erklärt, warum eine solche Hilfe in den unterschiedlichsten Gesellschaften als selbstverständliche Einrichtung gepflegt wird, oft mit umfangreichem Instrumentarium. Angesichts der hochgradigen Modernisierung der eingesetzten Technik spielt heute die Professionalität eine maßgebliche Rolle. In früheren Jahrhunderten nahm man hierzulande das Blashorn als Warninstrument oder es wurde laut an Türen und Fenstern geklopft, um die Bewohner zu alarmieren. Glocken wurden geläutet. Mit diesem einfachen Instrumentarium konnte der Einsatz von möglichst vielen Menschen gesichert werden - dank sozialer Nähe.

 

 

Sich zuständig machen

Im Neuen Testament erhält der Akt des Nothelfens eine prominente Stellung in der Beispielerzählung Jesu über den barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-36). Die Ausgangssituation wäre aus heutiger Sicht ein triftiger Grund für einen Notruf. Nachdem er überfallen worden ist, liegt ein Mann in einer einsamen Gegend schwerverletzt am Wegrand. Er ist halbtot. Jesus stellt klar: Ein Schwerverletzter ist ein Hilfsbedürftiger, barmherziges Handeln ist angesagt. Ausgerechnet im Verhalten eines im Israel seiner Zeit verachteten Samaritaners macht Jesus sichtbar, worauf es zuerst ankommt: sich selbst zuständig machen. Daraus folgen hier die notwendigen Schritte Wundversorgung, Krankentransport, Unterbringung und Pflege.  „Der barmherzige Samariter“ ist zu einer Grundfigur geworden. In ihr zeigt sich die Menschlichkeit des Menschen: bereit sein und fähig sein zu helfen. 

Keine eindeutige Leitlinie

Die in der biblischen Erzählung dargestellte Ideallösung entspricht sicher nicht so ganz den heutigen Standards. Einen Verletzten anfassen ist nicht ratsam, da jeder falsche Griff die Lage verschlimmern könnte. Der Notruf wäre zu tätigen, dann sollte man vor Ort warten. Sobald das Einsatzpersonal eintrifft, ist mein Teil der Hilfeleistung abgeschlossen. Auch der Samariter begrenzt übrigens seinen eigenen Anteil an der Hilfe für den Verletzten. Er übergibt ihn vertrauensvoll in die Hände eines anderen und zahlt für dessen Dienste.  Ein bedeutsamer Impuls zur Selbstbegrenzung im Helfen. Darüber hinaus führt die Erzählung zu der ethischen Frage, ob es vertretbar ist, das eigene Leben der Gefahr auszuliefern. Die menschenleere Strecke mit dem Verletzten zurückzulegen, bedeutete für den Samariter, nur noch schleppend voranzukommen und die Gefahr eines weiteren Überfalls in Kauf zu nehmen. So stellt das Helfen vor die grundsätzliche Entscheidung, welche Notlage wann prioritär zu behandeln ist. Grundsätzlich ist weiter zu fragen, ob im Notfall eine Hilfeleistung erzwungen werden darf. Solche Fragen machen es schwer, einfache Definitionen für Hilfe oder Nothilfe als allgemeine Leitlinie zu formulieren.

Von Hilfe erzählen

Vielleicht kommt es aber vor allem darauf an, von einzigartigen Augenblicken zu erzählen, die in konkreten Situationen der Hilfe entstehen. Wer Hilfe empfängt und wer Hilfe leistet, erlebt wahrhaftige Begegnung und spürt tiefe Verbundenheit. Ein solch wunderbarer Moment wurde mir zuteil, als ich in meinem südkamerunischen Heimatdorf Ndele die 90 Jahre alte Ngele aus bedrohlichen Wassermassen befreite. Der kleine Fluss war angeschwollen, während sie, wie viele andere Dorfbewohner, tief im Wald in ihrem Gemüsegarten arbeitete. Niemand hatte den Wasseranstieg erwartet. Es hatte wohl flussaufwärts heftig geregnet. Auf ihrem Rückweg war Ngele von der Strömung flussabwärts geschleppt worden. Ich fand sie völlig geschwächt im Wasser. Zum Glück war ihr Rückenkorb dort an einem Ast hängengeblieben. So lag sie auf ihrem Korb, hatte aber keinen Boden mehr unter ihren Füßen und somit auch keinen Halt. Ich vergesse ihren Blick nicht, als wir endlich das Ufer erreicht hatten. Ein solcher Blick singt tiefsinnige Strophen, die nur in diesem einen Augenblick vernehmbar sind. Sie entstehen dort, wo ein Mensch Rettung erlebt. Das kann schon da geschehen, wo er die richtigen Worte hört, die passende Geste wahrnimmt, sich durch einen Blick wirklich gesehen fühlt. Diese Strophen nimmt man auf seinen weiteren Weg durchs Leben mit.

 

Sendungen von Pfarrer Jean-Félix Belinga Belinga