Als Kind erlebt unser Autor, wie sein geschätzter Onkel aus Wut einen Angestellten runtermacht. Was passiert, wenn nur noch Macht das Miteinander bestimmt? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.
Jules war für uns mehr als ein "Boy"
Als Bürgermeister war mein Onkel Teil der Elite einer kleinen Stadt in Südkamerun. Nur der Bezirksverwalter und der Polizeichef genossen in dem Ort eine vergleichbare Stellung. Damit gehörte mein Onkel zu den wenigen Menschen, die sich einen sogenannten "Boy" leisten konnten. Der "Boy" ging zum Beispiel täglich in aller Frühe zum Markt und kaufte ein. Er hackte das Brennholz, spülte das Geschirr, hielt das Haupthaus und das Kochhaus sauber und räumte auf. Ein "Boy" war rund um die Uhr beschäftigt. Nur das Kochen übernahm bei uns meine Tante persönlich.
Ich wohnte damals bei meinem Onkel, da ich in seiner Stadt die weiterführende Schule besuchte. Der "Boy" war zu dieser Zeit der immer gut gelaunte Jules. Wir Kinder mochten den jungen Mann, der ein begnadeter Erzähler war. Innerhalb von Sekunden zog er uns in seinen Bann und strapazierte mit seinen Geschichten unsere Lachmuskeln. Kam aus dem dauernd laufenden Radio Musik, gab er prompt eine witzerfüllte Tanzanleitung. Wir nannten Jules deshalb scherzhaft "Animateur."
Abruptes Ende
Ich werde den Nachmittag nicht vergessen, an dem Jules‘ Dienst ein abruptes Ende nahm. Der Polizeichef war unerwartet bei meinem Onkel eingetroffen, wollte aber gleich wieder gehen. Mein Onkel jedoch konnte seinen geachteten Gast auf keinen Fall verabschieden, ohne dass beide, wie es zum guten Umgang gehörte, mit einem Glas Wein anstießen. Jules musste eilig ins Stadtzentrum flitzen, einen Wein kaufen und so schnell zurück sein, dass der Umtrunk in das kleine Zeitfenster des Polizeichefs passte.
Leider kam Jules nicht so flott zurück, wie es mein Onkel gewünscht hatte. Warum, das hat der "Boy" nie erklären können, denn danach wurde er nie gefragt. Der Polizeichef aber war längst wieder gegangen.
Der Wutausbruch meines Onkels lässt sich schwer in Worte fassen. Er schrie Jules entsetzlich an. Für uns Kinder hörte sich seine donnernde Stimme so grauenhaft an, dass wir uns die Ohren zuhielten. Unerträglich lange dauerte die Schimpftirade, die wir uns wort-, macht- und tatenlos anhörten. Die eigentliche Tragweite des Vorfalls jedoch wurde uns erst bewusst, als wir begriffen, dass unser "Animateur" seinen Job an diesem Nachmittag verloren hat. Wir Kinder trauerten tagelang.
Wenn Machtbeziehungen die Oberhand bekommen
Eine Erinnerung aus der Kindheit. Und trotzdem wachen die schlummernden Bilder, Geräusche und sogar Gerüche jedes Mal in mir auf, wenn ich daran denke. Mich erschüttert bis heute die Wucht des Zorns meines Onkels. Wie kann ein Mensch einen anderen dermaßen demütigen? Mein Onkel verkörperte plötzlich eine unkontrollierte Macht. Das entstellte und entfremdete ihn. Er war auf einmal gewalttätig, wenn auch nur verbal. Jules blieb in diesem gewaltigen Machtgefälle "nur" ein "Boy", ohne Stimme, ohne Recht, ohne Abwehr.
Gehört die Neigung zur Macht zum Wesen des Menschen? Schwer zu sagen. Wo sie das Miteinander prägt, entsteht häufig eine Asymmetrie in der Beziehung. Es geht nur noch darum, wer über- und wer unterlegen ist. Jules war nur noch der "Boy", der den Wunsch seines Herrn nicht erfüllt hat. Mein Onkel nur noch der schreiende, strafende Herr. Was die beiden sonst ausmacht und ihre Beziehung, war weg. Bis heute lehrt mich diese Szene meiner Kindheit: Machtbeziehungen muss man kritisch hinterfragen. Macht macht etwas mit Menschen. Mit denen, die sie ausüben, und mit denen, die ihr unterworfen sind.
Machtbeziehungen sind schwer kontrollierbar
Mein Onkel war nicht nur Bürgermeister. Er war auch Lehrer. Er war es, der uns Kindern zuhause erklärte, was hinter der Sklaverei und dem Dreieckshandel steckte. Anschaulich vermittelte er uns, dass Menschen von der afrikanischen Atlantikküste in kleinen Schiffen gepfercht nach Amerika geschleppt worden waren. Dort arbeiteten sie in Kakao-, Zuckerrohr- oder Tabakplantagen. Wir haben verstehen, dass dieser Handel nur funktionieren konnte, weil die Europäer eine vielseitige Machtstellung in und um Afrika etabliert hatten.
Der Onkel kannte sich aus. Deswegen irritierte es mich, dass er mit seiner Macht nicht anders umgehen konnte. Er hatte die Kontrolle über sich und über die Situation völlig verloren. Er konnte sich nicht mehr durch die Vernunft steuern lassen. Er war plötzlich in der Lage, einen anderen Menschen zu demütigen, zu erniedrigen, verächtlich und entwürdigend zu behandeln.
Jules damals hat sich nicht gewehrt. Sein Blick war voller Hass und Zorn. Aber er sagte kein Wort. Er verharrte in einem passiven Erdulden. Eine hilflose Starre, der Verschiedenes folgen kann: der Wunsch, sich zu rächen, das bleibende Gefühl der Erniedrigung oder die Kraft, das Erlittene hinter sich zu lassen und sich nie wieder so demütigen zu lassen. In dem Moment damals schien jegliche Möglichkeit der Klärung und Versöhnung verspielt.
... gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit
In der Bibel gilt die Aufmerksamkeit besonders den Gedemütigten, den Schwächeren. Es können sozial Schwache sein, Arme, körperlich oder seelisch Versehrte, Ausgestoßene, Geflüchtete, Vereinsamte, an den Rand der Gesellschaft Gedrängte. Ihnen ist Gottes Liebe genauso zugesichert wie den Machtausübenden. Damit Macht ihre Gesichter und Seelen nicht verzerrt – die einen nicht zu bloßen Untergebenen, die anderen nicht zu Despoten. Gott wirft ein unvergleichbar wertvolles, zeitloses Licht auf das Wesen jedes einzelnen Menschen.
Ein Schlüsselsatz steht im Psalm 8: Gott, "du hast den Menschen nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße."(1)
Das sind Worte, die jedem Menschen gelten. Unabhängig davon, wie viel oder wie wenig erkennbare Macht er mit sich führt.
Anmerkungen:
(1)Einheitsübersetzung