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In einem Seminar diskutiere ich mit jungen, erwachsenen Frauen und Männern über interkulturell motivierte Konflikte. Interkulturalität setzt Kultur voraus, also bildet der Begriff Kultur einen Löwenanteil der Inhalte, über die wir reden. Und da Kultur im Alltag des Menschen, in seiner Geschichtlichkeit erlebbar wird, fädelt sich auch die Geschichte in das Gespräch ein.
Wir reden über das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft, über die zentrale Rolle der Erinnerungen für die kulturelle Identität. Eine Erinnerungskultur zu pflegen sei unverzichtbar für jede Gesellschaft, erkennt die Gruppe zu Recht. Die Vernunft verlange eine Antwort auf die Frage, was den Menschen Zeit seines Lebens formt. Die Erinnerungskultur sei also relevant für die Gegenwart und genauso für die Zukunft. Sie müsse für die verschiedenen Generationen immer wieder plausibel gemacht werden.
Es wird aber auch wichtig, der Frage nachzugehen, woran erinnert werden soll. Um welche Inhalte soll es sich handeln? Als der Begriff „Nationalsozialismus“ fällt, wird das Gespräch in dieser bislang so gesprächigen Gruppe plötzlich zäh und die Erinnerung scheint ihre mittlerweile prominente Stellung in der Diskussion zu verlieren. Aber das findet wiederum ein großer Teil der Gruppe bedauerlich. Es sei sogar „unverantwortlich“, die Erinnerung zu opfern, nur weil bestimmte Inhalte als heikel empfunden werden.
Doch dann fällt eine kritische Anmerkung, die der Diskussion eine völlig neue Dynamik verleiht. Ein junger Mann findet, dass diese Gruppe für die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an den Holocaust schlicht die „falsche Generation“ darstelle. Man könne sich nicht an Dinge erinnern, die man nicht erlebt hat. Er sehe es als gewaltigen Zwang an, dass seine Generation immer wieder angemahnt wird, an einer Erinnerung festzuhalten, die nicht ihre ist. Eine Erinnerung an Gräueltaten aus der eigenen Geschichte wolle er nicht an seine Kinder weitergeben, weil sie ihn mit Scham erfülle.
Der junge Mann war kein Anhänger rechter oder rechtslastiger Ideologien. Auch diejenigen in der Gruppe nicht, die seine Meinung teilten. Seine Haltung ist nicht neu, nicht ungewöhnlich. Sie wirft aber ein bemerkenswertes Licht auf den Begriff Erinnerung und seine Rekonstruktionen. Als Gesellschaft werden wir unmittelbar mit der Frage konfrontiert, wie wir die Erinnerungen an die jüngeren Generationen so weitergeben können, dass die sie als unverzichtbares, wertvolles Gut bewusst und gerne weitertragen. Erinnerung auszuhalten, haftet an ihrer Natur. Aber es zu tun, macht diese Aufgabe nicht leicht. Wahrscheinlich liegt hier eine wichtige Herausforderung für die Gesellschaft: die Erinnerungskultur immer wieder auf die jeweilige Gegenwart einzustimmen, damit die Fähigkeit, die Erinnerung zu tragen, erhalten bleibt. Ich nehme aus der genannten Diskussion mit, dass die Notwendigkeit, eine Erinnerungskultur zu pflegen, indiskutabel ist, aber auch, dass diese Pflege eine äußerst komplexe Aufgabe ist, an der engagiert gearbeitet werden muss. Und die jeweilige Gegenwart führt auf immer wieder neue Bezüge, die uns anderweitig herausfordern. Was zählt als pflegewürdige Erinnerung? Wie kann und muss sie gepflegt werden? Wer soll, wie, welche Erinnerung pflegen? Das sind einige Fragen, die es sich lohnt, näher zu betrachten.
Sozialisation setzt im westeuropäischen Kontext eine Entwicklung des Menschen in einem klar definierten gesellschaftlichen Rahmen voraus. Darin wird eine bestimmte Sprache gesprochen. Die Familie, der Beruf, häufig auch die Religion besitzen das Potenzial, eine kulturelle Identität zu formen. Aus den vielfältigen Bildungsangeboten können die Einzelnen wählen. Der so sozialisierte Mensch ist gemeint, wenn vom Erinnerungsvermögen und von einer Erinnerungskultur die Rede ist. Viele Gesellschaften im afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Kontext jedoch fallen aus diesem Muster heraus. Das Lebenseinkommen ist niedrig, die Familie, die Bildung, der Beruf und gesicherte soziale Verhältnisse sind für beträchtliche Teile der Gesellschaften nicht vorhanden. Bildungsangebote stehen nur einer Minderheit offen. Dann sind auch definierbare kulturelle Identitäten schwer auszumachen. Diejenigen, für die die Flucht das einzige Erlebnis bleibt, das ihr Leben entscheidend prägen kann, sind hierfür ein extremes und dabei tausendfaches Beispiel.
Es geht um Existenzen, die sich in Flüchtlingslagern abspielen oder auf Fluchtwegen, die die Betroffenen häufig als tagelange Fußmärsche erleben. Als einzelne Schicksale sind sie schon längst nicht mehr anzusehen. Es geht bei Menschen auf der Flucht um wachsende Zahlen, die schon heute erschreckende Dimensionen erreicht haben. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR stellt fest, dass Ende 2021 mehr als 89 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen sind. Sechs Jahre davor, 2015 also, waren es 24 Millionen weniger. Erlebnisse, die sich in das Gedächtnis der betroffenen Menschen einbrennen, sind Isolation, Grenzübergänge mit erheblichen Verletzungen ihrer Menschenrechte, Verhaftungen, Gewalt in oft schwer vorstellbarem Ausmaß und menschenunwürdiger Form. Ein Geflüchteter formulierte es mit dem Satz: „Es sind Momente dabei, die du aus deinem Leben ausradiert haben möchtest, was aber nicht geht.“
Viele solcher Momente lassen sich auch unmittelbar als Traumata benennen. Es sind Erlebnisse, die so schmerzhaft sind, dass die betroffenen Personen sie nicht mehr erfassen können. Doch vergessen können sie sie auch nicht. Aus Scham verbieten sich viele, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Gibt es auch Kategorien für die Erinnerungslast, der sie unterliegen? Der Begriff Erinnerung in diesem Zusammenhang scheint mir besonders herausfordernd zu sein. Er verlangt ein genaues Hinsehen und stellt die Menschheit nicht nur vor die Aufgabe, neue Identitäten zu formulieren. Hier geht es auch um die Frage, welche Perspektiven diesen Menschen gegeben werden können, damit eine Zukunft für sie denkbar und vorstellbar wird. Ich denke dabei an einen Begriff Zukunft, der über das Annehmen oder Sich-mit-den-Erinnerungen-Versöhnen hinausgeht, zumal ein Zugang zu ihren Erinnerungen sich nur schwer gestalten ließe. Ihnen möchte ich auch ein Eintreten in eine konstruktivere Erinnerungskultur ermöglichen. Aber für viele gibt es keine sozialen Institutionen, die ihnen zu einem adäquaten Zugang verhelfen könnten. Bleibt also das „Auf-der-Flucht-sein“ die einzige Perspektive für sie? Das zumindest entnehme ich den Worten einer Geflüchteten, die sagte: „Wenn du auf der Flucht bist, gibt es keinen Ort, an dem du wirklich ankommst.“
In meiner afrikanischen Heimat Kamerun ist die Erinnerungskultur mit einer besonderen Tradition verbunden. Im Mittelpunkt steht eine Person, deren Beruf es ist, die Erinnerungen aus der Geschichte einer bestimmten Volksgruppe zu hüten. Diese Hüterin oder meistens dieser Hüter der Erinnerungen tritt als Erzähler mit einem harfenähnlichen Musikinstrument auf. Er trägt dabei Abschnitte aus der Geschichte der jeweiligen Volksgruppe vor. Die Zuhörer und Zuhörerinnen bezieht er ein, indem er sie zeitweise mitsingen lässt. So nutzt er den Gesang als Medium, durch das die Zuhörerschaft emotional in die eigene Vergangenheit geführt wird, diese also vergegenwärtigt wird.
Das letzte Mal, als ich einem Hüter der Erinnerungen lauschte, hatte er drei Abende hintereinander erzählt und gesungen. Es ist schwer, seine Erzählungen in eine klare Kategorie einzuordnen. Handelte es sich um Mythen? Um Legenden? Sagen? Mir jedenfalls versicherte er hinterher, dass er nur von Dingen erzählte, die lange und teilweise sehr lange vor seiner Geburt passiert waren, an die er sich aber erinnerte. Wie das ging, sollte sein Geheimnis bleiben.
Wer aber genau hinhörte, konnte von Völkerwanderungen erfahren, die mindestens zwei Jahrhunderte zurücklagen. Es handelte sich um große Volksgruppen in Kamerun, die von der Savanne in die fruchtbareren Waldgebiete nach Süden wanderten. In anderen Erzählungen hörte man von Auseinandersetzungen, die auf die deutsche Kolonialherrschaft in Kamerun zurückgingen und somit ein Jahrhundert zurücklagen. Der Hüter der Erinnerungen besang dabei kamerunische Helden, die jedoch in der politischen Geschichte der Gegenwart keine Rolle mehr spielen. Ebenso beklagte er schreckliche und zum Teil tragische Ereignisse aus den unheilsamen Begegnungen zwischen den ursprünglichen Bewohnern der Region Jaunde in Kamerun und den deutschen Eroberern. Sie waren als Freunde empfangen worden, mutierten aber bald zu Feinden. Die „grausamen Invasoren“ hatten sadistische Gewohnheiten, denn sie sahen gerne andere leiden und töteten oft genauso gerne, so der Hüter der Erinnerungen.
Ich musste an diesen Erzählabenden feststellen, dass die Kolonialgeschichte ganz anders in den Büchern stehen würde, wenn sie aus der Perspektive dieser Hüter der Erinnerungen geschrieben worden wäre. Aber ihre Perspektive ist im modernen Kamerun unerwünscht. Lokale Helden hatten in der nachkolonialen Geschichtsschreibung keinen Platz. Die Vitalität, eine nationale Identität mitzugestalten, wurde der Erinnerung an sie offensichtlich nicht zugetraut.
Für viele Menschen in Kamerun gehört die koloniale Vergangenheit nicht zu den Inhalten, an die man sich gerne erinnert. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung daran, wie wichtige kamerunische Persönlichkeiten gedemütigt und ermordet wurden. Zu trist die Ausbeutung, die mit der Kolonialherrschaft einherging. Und feststellen zu müssen, dass die früheren Kolonialherrschaften es waren, die von Anfang an unwiderruflich die Perspektive festlegten, aus der dieser Teil der Geschichte wahrgenommen werden soll, diese Erkenntnis schmerzt ebenso. Nach welchen Kriterien erinnerungswürdige Inhalte der Geschichte zu bewahren sind, das bleibt in diesem Zusammenhang eine offene Frage.
„Ich hätte nie gedacht, dass wir so etwas noch einmal erleben müssen …“ Medienberichten zufolge war diese Klage immer wieder von alten Menschen in ukrainischen Kampfgebieten zu hören. Zwar wurde die Trauer dabei durch das gerade erlittene Leid ausgelöst. Aber diese Worte weisen auch unmissverständlich darauf hin, dass das Entsetzen der letzten Kriege Lehre genug hätte sein müssen. Sie stellen die Frage, warum Menschen nicht aus der Erinnerung an die früheren Gräueltaten lernen. Ob die Erinnerung die Wirksamkeit entfaltet, Menschen auf einen dauerhaften Frieden eizustimmen, bleibt fraglich. Denn der Mensch scheint dort ein äußerst kurzes Gedächtnis zu besitzen, wo er mit Machtgebärden stolziert.
So wie derzeit in der Ukraine wird es vielen Menschen hierzulande 1939 ergangen sein. Zwanzig Jahre nach dem ersten Weltkrieg, bei dem mehr als 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten, wurde schon wieder zu den Waffen gegriffen. Die Erinnerung an die Ruinen, an die erdrückende Trauer, an den mühsamen Aufbau musste noch wach und lebendig in den Einzelnen gewesen sein. Die erlebten Auswirkungen waren in dieser Generation noch spürbar. Und trotzdem hat das die Akteure nicht daran gehindert, wieder einen Krieg dieser Dimension anzufangen. Dieses Mal sollten über 60 Millionen Menschenleben ausgelöscht werden.
Der Krieg in der Ukraine wurde zu einem unerwarteten Zeitpunkt begonnen. Die Erinnerungskultur, auf den letzten Weltkrieg bezogen, schien weit verbreitet und tief in verschiedenen Gesellschaftsschichten verankert zu sein. Die authentischen Zeugen und Zeuginnen hatten lange genug gearbeitet, flankiert durch historische Rekonstruktionen. Und sie hatten viel geleistet. Die europäische Welt schien sich von der Kriegstreiberei erholt zu haben. Dass gerade dann ein Angriffskrieg gestartet wird, bringt Kopfschütteln. Aber das kann nur das Ergebnis der Bestrebungen individueller Machthaber sein. Und oft gruppieren sie eine Elite um sich, um effektvoller an ihren zerstörerischen Zielen zu feilen.
Als Ende April 1994 die erste demokratische Wahl in Südafrika stattfand, markierte dieses historische Datum zwei Punkte in der Geschichte des Landes: Es war ein neues, weltweit gefeiertes Südafrika geboren. Es ging aber auch um das Ende eines jahrzehntelangen Systems, das die gewaltsame Trennung der weißen und der schwarzen Bevölkerung gesetzlich festgelegt hatte. Letztere hatte buchstäblich alles verloren, was ihr Leben lebenswert machen konnte. Nun, Nelson Mandela war, wie erwartet, neuer Präsident dieses gesellschaftlich gespalteten Landes geworden. Mandela galt weltweit als Symbolfigur, die prägnante Werte repräsentierte: Freiheit, Toleranz, Integrität, Gerechtigkeit schienen in ihm eine neue Verkörperung gefunden zu haben. Erwartungsgemäß sah Mandela davon ab, einen Rachefeldzug gegen die weiße Minderheit zu starten. Nein, er nahm sich zum Ziel, die zwei Gruppen miteinander zu versöhnen. Übermächtige Täter und ihre unterdrückten Opfer in einem festzementierten System, das bislang das Land bestimmt hatte, sollten sich nun begegnen und am Ende versöhnen. Wo sich die unvorstellbaren Grausamkeiten der Apartheid über Jahrzehnte gefestigt hatten, wo Hass, Feindseligkeit und Abscheu geschürt worden waren, sollten sich die Kontrahenten die Hand reichen. Die sogenannte Wahrheitsfindungskommission flankierte den Prozess mit der Aufgabe, den Menschenrechten, die im Apartheidsystem keine Gültigkeit hatten, einen neuen Boden zu geben. Aber „Versöhnung“ war ein unbekannter Begriff im tief gespaltenen Südafrika. Und dass die Schuldigen nicht vor ein Gericht kommen mussten, war nicht im Sinne vieler betroffener Opfer.
Auch hier stellt sich die Frage, wie das kollektive Gedächtnis einen neuen Begriff aufnehmen und integrieren kann – den Begriff der Versöhnung. Wie sollen eine Gegenwart und eine Zukunft die Erinnerung an die letzten Jahrzehnte, ja, sogar Jahrhunderte auslöschen? Kann die Versöhnung standhalten gegenüber dem Wunsch nach Gerechtigkeit, aber auch gegenüber dem Ruf vieler nach Vergeltung und Rache? Der im letzten Jahr verstorbene Erzbischof Desmond Tutu hat einmal gesagt: "Solange wir dem Untier nicht in die Augen schauen, hat es die unerfreuliche Angewohnheit, als ungebetener Gast zurückzukommen." Es sind Worte, die eine unermesslich große Gefahr benennen, die in der ungezähmten Erinnerung steckt. Südafrika ist eine Gesellschaft, die weiterhin mit enormen Spannungen zurechtkommen muss. Spannungen, die das Land auch in der Gegenwart zu zerreißen drohen. Die erhoffte Versöhnung ist heute nur in Teilen zu beobachten.
Ich bin überzeugt, dass die Erinnerungskultur als unverzichtbares Gut für jede Gesellschaft eine dringende Pflege benötigt. Sie muss als essentieller, integraler Teil einer lebendigen Kultur in verschiedenen Formen bewahrt und in Ritualen widergespiegelt werden. Aber zu ihrer Pflege gehört es, dass sie an die Anforderungen der jeweiligen Gegenwart angepasst wird, sonst ist sie nicht mehr in der Lage, den Menschen zu dienen.
Ebenso bin ich überzeugt, dass es eine wichtige Aufgabe der Gesellschaft ist, die individuellen Lebensgeschichten dabei zu berücksichtigen. Sie muss immer wieder Möglichkeiten entwickeln, denjenigen eine Teilhabe zu ermöglichen, die sich mit anderen Lebensgeschichten neu eingliedern. Die Komplexität heutiger Gesellschaften erfordert dringend, einen flexiblen Umgang mit der Erinnerungskultur zu entwickeln. Er wird die Gegenwart öffnen und Zukunft haben.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- David Munrow: Allmaigne & Recoupe, Tylman Susato. CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 5.
- Oliver Brookes: Passe et Medio, Tylman Susato. CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 10.
- The Morley Consort: Mounsier’s Almaine, Thomas Morley (Byrd). CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 14.
- Christopher Hogwood, D. Corkhill, J. Donaldson: Pavane ‚La Bataille‘, Tylman Susato. CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 13.
- David Munrow: Lachrimae Pavan, Thomas Morley (Dowland). CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 15.
- The Morley Consort: My Lord of Oxenford’s Maske, Thomas Morley (Byrd). CD-Titel: Renaissance-Dance, Track Nr. 20.