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Sie war umstritten, aber sie war ein Anfang: die sogenannte „Stuttgarter Schulderklärung“. Mit ihr räumte die evangelische Kirche vor 75 Jahren erstmals offiziell eine Mitschuld an den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes ein. Am 18. und 19. Oktober 1945 tagte in Stuttgart der neugebildete Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zu Gast war eine Delegation des Ökumenischen Rats der Kirchen, die auf ein Schuldeingeständnis der deutschen Kirchenvertreter wartete – auch als Voraussetzung dafür, dass die ökumenischen Beziehungen, auch im Sinne materieller Unterstützung, wieder aufgenommen werden könnten. Diese Erwartung sollte nicht enttäuscht werden. Am Abend des 18. Oktober wurde die „Stuttgarter Schulderklärung“ verfasst und am darauffolgenden Tag unterzeichnet. Ihre zentralen Sätze läuteten auf ihre Weise eine kirchliche Aufarbeitung der NS-Zeit ein – so unterschiedlich sie auch bewertet werden sollten:
„Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." (1)
Einer der maßgeblichen Verfasser der Stuttgarter Erklärung war Martin Niemöller, der aus eigenem Erleben beides kannte: die Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus ebenso wie die Auflehnung dagegen. Der ebenso streitbare wie umstrittene Theologe hatte bereits 1924 die NSDAP gewählt und anfangs den Führerstaat unterstützt, später wurde er zu einer Symbolfigur des kirchlichen Widerstandes und zum persönlichen Gefangenen Hitlers. Nach dem Krieg äußerte sich Niemöller immer wieder zu Fragen der persönlichen wie der kirchlichen Schuld im sogenannten „Dritten Reich“. Am Abend des 18. Oktober 1945 brachte er unter anderem in die Diskussion ein:
„Wir bitten, dass Gott uns diese unsere Schuld vergeben möchte, und die Schuld, indem er sie uns vergibt, zu einem neuen Motor für die ganze Welt werden lassen möchte.“ (2)
Aus dem Bekennen von Schuld kann etwas Neues erwachsen, wenn dieses Bekennen differenziert und sensibel geschieht. Es gibt einen Ort, der dies für mich auf besondere Weise zeigt. Es ist das Konzentrationslager Dachau, in dem Martin Niemöller vier Jahre lang inhaftiert war. In Dachau werden Leid und Schuld offenbar, ebenso wie Bekennen und Widerstand. Und mitten in der Gedenkstätte steht eine evangelische Kirche, in der man sich der Vergangenheit stellt und nach Wegen sucht, eine andere Zukunft zu gestalten.
Dachau in Bayern, zwanzig Kilometer von München entfernt. Am Bahnhof beginnt mit einer Schautafel der „Weg des Erinnerns“ hin zur KZ-Gedenkstätte. Über 200 000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 dorthin und in die Außenlager verschleppt. Die Gefangenen kamen zum Teil direkt am Bahnhof an und wurden von hier aus zum Lager getrieben.
Es ist früh am Morgen, die Gedenkstätte hat gerade geöffnet. Ich bin fast allein auf dem weitläufigen Gelände. Ich gehe vom Besucherzentrum hin zum ehemaligen Lager, gehe durch das schmiedeeiserne Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“. Hier sind die Gefangenen angekommen mit Mänteln und Koffern, mit Trauringen und Fotos, mit einem eigenen Leben eben und mit ihrer Würde. Alles wurde ihnen genommen.
Ich gehe über den Appellplatz, vorbei am internationalen Mahnmal mit der Bronzeplastik: Menschen im Stacheldrahtzaun. Links und rechts der Lagerstraße standen die 34 Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren. Heute zeigen rekonstruierte Betonfundamente ihre Grundrisse. Eine rechtwinklige Leere, eine kalte Geometrie. Die letzten Baracken links bildeten den sogenannten „Pfarrerblock“, in dem zwischen 1941 und 1945 weit über 2000 katholische Geistliche gefangen waren und über 100 evangelische Pfarrer. Am Ende der Lagerstraße steht die katholische Todesangst-Christi-Kapelle, dahinter angrenzend das Karmeliterinnenkloster, rechts die jüdische Gedenkstätte. Am westlichen Rand des Lagers, bevor man vorbei an der russisch-orthodoxen Kapelle zum ehemaligen Krematoriumsbereich gelangt, steht die evangelische Versöhnungskirche – grauer Sichtbeton. Hier bin ich mit Dr. Björn Mensing verabredet, Historiker und Pfarrer hier. Das Verhalten der Kirche in der NS-Zeit gehört zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Ich suche den Eingang: Eine Freitreppe führt mich in die Tiefe, sie wird enger, je weiter ich ihr folge. Es ist ein „Weg der Scham“, ein „Weg der Trauer“, man kann ihn verstehen als ein „Eintauchen in die Erinnerung“ oder als „Suche nach Zuflucht“, hinein in die bergende Mulde, in die die Kirche gebaut ist. An den Wänden des Wegs zeichnen sich Reliefs ab: liegende Gestalten, leidende Menschen. In den offenen Innenhof, der in den Kirchenraum führt, fällt helles Licht. In einem Stahltor lese ich Worte des 57. Psalms: „Zuflucht ist unter dem Schatten deiner Flügel“.
Eine Kirche, hier, an diesem Ort. Nicht jeder empfindet das als passend – das weiß Björn Mensing, der hier Gruppen führt, Projekte anleitet, forscht und predigt.
„Ja, da gibt es viel Erstaunen, und das Spektrum der Reaktionen ist breit gestreut: Das ist zum Teil Erstaunen verbunden mit Ärger - das gibt es auch. Wir haben also auch die Reaktionen, dass gesagt wird: ‚Wie kann die evangelische Kirche hier an diesem Ort des Terrors da eine Kirche hinbauen, wo doch gerade auch die evangelische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus so versagt hat!‘ Diese Reaktion gibt es. Wir sind ja hier nicht der einzige religiöse Gedenkort, und es gibt schon auch die Reaktion: Also, hier sei doch irgendwie viel zu viel Kirche, hier würde Kirche den Ort überformen.“
Meistens aber, so erlebt es Mensing, nehmen die Menschen dankbar an, dass es diesen Ort gibt. Sie kommen zur Ruhe in dem nüchternen Kirchenraum, zünden eine Kerze an, schreiben ihre Gedanken in das Besucherbuch. Sicher trägt auch ihre Entstehungsgeschichte dazu bei, dass Menschen diese Kirche als einen Ort des Innehaltens annehmen können. Es war Mitte der 1960er Jahre, als die Versöhnungskirche entstand, in einer Zeit, in der die Erinnerungskultur im Protestantismus eine neue Ausrichtung erfuhr.
„Bis dahin hatte die evangelische Kirche in Deutschland im Wesentlichen an ihre Blutzeugen, an ihre Märtyrer der Bekennenden Kirche erinnert. Wenn also Gedenkorte errichtet wurden, dann ging es um Paul Schneider, um Dietrich Bonhoeffer, also um diejenigen mit evangelischem Hintergrund oder auch mit evangelischen kirchlichen Ämtern, die von den Nationalsozialisten ermordet worden sind. Also gewissermaßen in diesen ersten Jahren nach 1945 ehrte man und gedachte man, ich sage jetzt mal: der eigenen Märtyrer und war ja zunächst sehr zaghaft darin, die eigene Verstrickung in der Zeit des Nationalsozialismus, die für den viel größeren Teil innerhalb der evangelischen Kirche eher typisch war als in den Widerstand zu gehen - das ist doch nur von kleinen Teilmilieus kritisch bearbeitet worden.“
Die „Stuttgarter Schulderklärung“ und die folgenden Ansätze einer geistlichen Neuorientierung waren in den Augen Mensings trotz aller Kritikpunkte ein wichtiges Signal gerade auch für Opfer des NS-Regimes. Ein Signal, das es ihnen möglich machte, mit evangelischen Christen in Deutschland Kontakt aufzunehmen. Und so waren es vor allem niederländische Protestanten um Dirk de Loos, ehemalige Häftlinge des Lagers, die sich für den Bau der Versöhnungskirche einsetzten. Die Konferenz Europäischer Kirchen unterstützte sie dabei, der Weltrat der Kirchen, ebenso die Evangelische Kirche in Deutschland.
Von Anfang an war es klar, dass hier ein Ort entstehen solle, an dem an alle Verfolgten erinnert werden soll hier und zwar verbunden mit dem Bekenntnis dazu, dass eben die evangelische Kirche in der NS-Zeit da im Wesentlichen versagt hat. Also wirklich diese Veränderung von der Perspektive des Gedenkens an die eigenen Opfer, an die eigenen Märtyrer, ins Erkennen der Verantwortung dafür, dass aus dem Nichteintreten der evangelischen Kirche für einen Großteil der verfolgten Gruppen in der NS-Zeit eben diese besondere Verantwortung erwächst wenigstens im Gedenken und im Erinnern hier mit deutlich sich zu engagieren und eben immer auch kritisch mitzubenennen die Rolle, die die evangelische Kirche in der NS-Zeit gespielt hat.
Am 30. April 1967 wurde die Versöhnungskirche eingeweiht. Die erste Predigt hielt Martin Niemöller, der auf seine Weise verkörperte, womit sich diese Kirche auch auseinandersetzen sollte: Als ehemaliger Häftling zählte er zu denen, die hier gelitten hatten, er stand auch für Bekennen und Widerstand. Und er repräsentierte als Mitverfasser der „Stuttgarter Schulderklärung“ und als Kirchenvertreter mit einer auch widersprüchlichen Biographie eine Institution, die auf der Suche nach Wegen war, sich ihrer Schuld zu stellen.
Für Björn Mensing spielen nicht nur herausragende Biographien wie die Niemöllers bei seiner Arbeit eine Rolle. Er sieht sich auch dem Andenken der weniger prominenten Männer im sogenannten Pfarrerblock verpflichtet. Sie zeigen ihm: Auch in dieser Zeit, in einer Kirche, die anfällig war für die Ideologie des NS-Staates gab es Menschen, die mutig gehandelt und brennend geliebt haben. Das darf nicht vergessen werden.
„Nicht im Sinne, dass sich die heutige evangelische Kirche jetzt mit ihnen schmücken könnte als die Widerstandskämpfer, die, sagen wir mal, insgesamt für die evangelische Kirche damals standen. Im Gegenteil: In dem Nachspüren ihrer Biographien zeigt sich eben allzu oft, dass sie von den Kirchenleitungen auch in ihrem widerständigen Handeln allein gelassen worden sind. Dass also auch an das erinnert wird hier. Aber eben dann wirklich auch an die Predigten und Andachten, die überliefert sind, die hier die eingesperrten auch eben evangelischen Pfarrer ihren Mitbrüdern seit 1941 in der Kapelle im Pfarrerblock 26 halten konnten. Also diese überlieferten Predigten sind für mich in jetzt auch meiner Predigttätigkeit hier seit 15 Jahren an der Kirche ganz, ganz wichtig: Also immer wieder zitiere ich hier in meinen Predigten aus diesen Predigten. Und ich denke fast, wir können an diesem Ort hier fast nur Gottesdienst feiern, weil wir wissen, dass Menschen damals hier an diesem Ort in ihrem Glauben Trost gefunden haben.“
Versöhnungskirche. Der Name, so lese ich in einer Broschüre, soll ausdrücken, dass alle einer Versöhnung bedürfen - einer Versöhnung, die nur Gott schaffen kann. Zunächst klingt das für mich sehr abstrakt. Wenn ich mich aber umsehe im schmucklosen Kirchenraum, entdecke ich: Der Raum predigt diesen Gedanken, und stellt sich damit zugleich jeglichem allzu glatten Trost entgegen. Für mich wird das vor allem am Kreuz sichtbar. Im christlichen Glauben ist es der Ort, an dem Versöhnung geschieht - auf schwer fassbare Weise: Weil Gott selbst alle Schuld getragen hat. Hier, an diesem Kreuz in Dachau, hängt kein Christus triumphator. Stattdessen blicke ich auf vier massive Metallquader, mitten in die Wand gesetzt. Kräfte von außen, so scheint es, versuchen, einen schmalen Körper zu zerdrücken. Und wenn ich mich genau unter den Kubus stelle, merke ich, wie es diesem leidenden Körper gelingt, einen kleinen kreuzförmigen Raum offen zu halten. Ich denke an ein Zitat Dietrich Bonhoeffers:
„Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns." (3)
Gott war da, ist da, auch und gerade an diesem Ort. Das lese ich in diesem Kreuz. Hier lässt sich Schuld benennen. Auch wenn die angemessene Form eines solchen Bekenntnisses Jahrzehnte nach Kriegsende Björn Mensing immer wieder neu herausfordert:
Man kann ja im Grunde genommen nicht stellvertretend Schuld bekennen. Ein klassisches Confiteor, ein klassisches Schuldbekenntnis oder Sündenbekenntnis, kann man nur für die Dinge aussprechen, die man selbst zu verantworten hat.
Was aber angesprochen werden könne, gerade auch in liturgischen Formen, das sei die Scham evangelischer Christen und die Klage vor Gott darüber, wie die Kirche damals gehandelt habe. Er wolle sich nicht zum Richter aufschwingen über die, die damals gelebt haben, entscheidend ist für Björn Mensing, dass aus dem Benennen der Schuld etwas erwächst, was fruchtbar gemacht werden kann für heute.
„Deshalb ist es für uns immer wichtig, auch in den Gottesdiensten, dass wir dieses Thematisieren von Schuld und Versagen in der NS-Zeit in einen Bezug setzen zu den Situationen, zwar anders, aber den Situationen, in denen wir heute schuldig werden oder in Gefahr kommen schuldig zu werden – indem wir heute wegsehen um eigener Vorteile willen oder der eigenen Bequemlichkeit willen an Punkten, wo wir die Stimme zu erheben hätten für Menschen, denen Unrecht geschieht.“
Wenn diese Linie in die Gegenwart gezogen wird, dann wird die Versöhnungskirche auch auf diese Weise ihrem Namen gerecht: als ein Ort, von dem Impulse für ein anderes Miteinander, Impulse der Versöhnung ausgehen.
Ich verlasse die Versöhnungskirche. Der Weg führt leicht aufwärts, Worte des 130. Psalms begleiten mich.
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.
Ich fahre zurück zum Dachauer Bahnhof. Dort fällt mein Blick auf den Aufdruck der Busse: Über ihre Längsseite zieht sich die Silhouette der Stadt mit ihren prominenten Gebäuden: das Schloss, die Pfarrkirche St. Jakob, das Rathaus. Und dazwischen, wie selbstverständlich, ist das Mahnmal der KZ-Gedenkstätte skizziert: Menschen im Stacheldrahtzaun. Dieser Aufdruck wird für mich zum Bild dafür, wie ich mir den Umgang der Kirche mit ihrer Schuld wünsche: Dass sie auftaucht, immer wieder, eingereiht zwischen herausragenden Persönlichkeiten, prächtigen Kirchen und diakonischen Einrichtungen. Dass diese Schuld uns nachfragen lässt und irritiert. Dass sie uns, in der Sprache der Versöhnungskirche, in die „Mulde der Scham“ treibt, die zugleich die bergende Mulde eines Psalmgebets sein kann. „Wir klagen uns an“: Mich persönlich trennt vom Anlass der „Stuttgarter Schulderklärung“ der Graben der Geschichte. Das Bekenntnis nimmt mich aber in die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass die Schuld sichtbar bleibt in der Geschichte der Kirche. Und dass sie mich unruhig sein lässt, im Sinne einer produktiven Unruhe: Dass ich wachsam bin, wo es heute an mir ist, mutiger zu bekennen, treuer zu beten, fröhlicher zu glauben. Und brennender zu lieben.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. „Thema“, Schindlers Liste
2. „Aus tiefer Not“ (instrumental), EG 299, Saxophon und Orgel
3. „Von guten Mächten treu und still umgeben“ (instrumental), Volker Schäfer
4. „Aus tiefer Not“, New Eyes on Martin Luther
5. „Remembrances“, Schindlers Liste
Literaturangaben
(1) Zit. nach Martin Greschat (Hg.): Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, S. 102.
(2) Zit. nach ebd., S. 97.
(3) D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1954, S. 242.