Landschaft in der Morgendämmerung
Gemeinfrei via pixabay
"An der Dämmrung Pforte"
Was den Morgen ausmacht
14.03.2021 06:05
Sendung nachlesen:

Es ist nicht mehr Nacht, es ist noch nicht Tag. Ich sitze im dunklen Zimmer. Die Vorhänge sind offen. Noch sind die Umrisse der Bäume und Sträucher im Garten nicht zu erkennen. Die Welt liegt im Dunklen.

 

Ich öffne das Fenster und lausche hinaus in den Morgen. Stille. Es ist die Zeit vor dem ersten Wort, die Zeit an der „Dämmrung Pforte“, wie der Theologe und Dichter Jochen Klepper sie genannt hat.

 

Der Schutz der Nacht schwindet mit jeder Minute, die verstreicht. Der nahende Morgen zieht mir langsam, aber unaufhaltsam den Mantel des Träumens und gnädigen Vergessens von den Schultern, in den ich mich hüllen konnte in den vergangenen Stunden. Ein anderer Morgen bringt das Ende einer Nacht, deren Finsternis meinen Blick gebannt hat, einer Nacht, die endlos schien.

Ich schaue nach draußen. Lange wird es nicht mehr dauern, und der neue Tag beginnt. Wie er wohl sein wird? Täglich, so hat es der Lyriker und Pfarrer Kurt Marti einmal formuliert, bringt die Sonne „den tag an den tag […] und hoffnung auf bessere tage, falls nicht die jetzigen schon die besseren sind“ – ebenso aber gibt es da die Furcht vor „jenem untag, da kälte, da nacht uns der wärme, dem licht entwurzeln wollen für immer“ (1).

 

An der Dämmrung Pforte: Gestern ist nicht mehr, heute noch nicht. Es ist, als ob die Uhr für einen Moment angehalten würde. Eine Stunde wie aus der Zeit gefallen. Ich bin ruhig und dabei hellwach.

Die kleine Spanne zwischen Nacht und Tag zeigt mir wie in einem Brennglas, wie kostbar mein Leben ist. Sie öffnet mir die Augen dafür, dass es nur eine kurze Frist ist, die mir auf der Erde geschenkt ist, und lässt mich zugleich etwas vom Geschmack der Ewigkeit kosten. Sie macht mich auf besondere Weise empfänglich für den, der die Zeit und mich in Händen hält.

 

„Der Bote des Tages ruft schon“, so heißt es in dem Morgenhymnus „Aeterne rerum conditor“, der auf den Kirchenvater Ambrosius zurückgeht und der vor Sonnenaufgang, zum Hahnenschrei, gesungen wird.  

 

Der Bote des Tages ruft schon,

der die tiefe Nacht durchwacht,

den Wanderern nächtliches Licht,

Nachtzeit von Nachtzeit trennt.

 

Während ich am geöffneten Fenster sitze und die kühle Luft einatme, ist mir, als könnte ich ihn leise hören, diesen Ruf, und als würde ich etwas von dem erahnen, der in dem Hymnus „der Dinge ewiger Grund“ genannt wird: der den Tag lenkt und die Nacht und „den Zeiten die Zeiten setzt, daß nicht Überdruß uns befällt“.

 

Noch vermag ich dem Ruf des Boten hinein in den Tag nicht zu folgen. Erst muss ich mich lösen von dem, was war: von der Nacht und von all dem, was mich bewegt hat in diesen Stunden. Das kann ein schöner Traum sein bisweilen, den zu verabschieden mir schwerfällt.

Dann wieder gibt es Nächte, in denen ich keinen Schlaf finde: Weil mich die Angst im Griff hat vor dem, was kommen mag. Weil mich der Schmerz wach hält angesichts dessen, was unwiederbringlich vergangen ist und verloren. Das sind die Nächte, in denen Dunkelheit nicht Geborgenheit bedeutet, sondern abgrundtiefe Finsternis.

  

In den Texten und Liedern, die der Glaube und die Poesie für die Zeit an der Dämmrung Pforte bereithalten, hat der Blick zurück auch auf solche Nächte seinen Ort: Die Finsternis wird nicht verschwiegen, aber es taucht da ein Gefährte der Nacht auf, der am Himmel leuchtet, noch bevor die Sonne aufgeht. Es ist der Morgenstern: der Lichtträger – der, der die Morgendämmerung bringt, der den Tag hervorzieht - so wurde dieses letzte vor Sonnenaufgang am Himmel sichtbare Gestirn in der Antike genannt und bedichtet. Sein helles Leuchten war den Menschen von jeher mehr als eine astronomische Erscheinung, hinter der vor allem die Venus steht.

 

Im Neuen Testament wird der Morgenstern zum Sinnbild für den Gottessohn und das, was dieser für die Glaubenden bedeutet. Er wird im Zweiten Petrusbrief beschrieben als „ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen“ (2 Petrus 1,19). Der Morgenstern – Christus – lässt der Finsternis nicht das letzte Wort.

 

Wieder ist es Jochen Klepper, an den ich denken muss, vielleicht auch deswegen, weil er immer wieder trotz des Todesschattens, der über seinem Leben lag, auf so berührende Weise vom Licht erzählen konnte. Die erste Strophe seines Gedichts „Die Nacht ist vorgedrungen“ ist für mich zu einem Begleiter für den Schritt in den Tag geworden, für den Übergang vom Dunklen ins Helle, von der Sorge hin zur Hoffnung:

 

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.

Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.

Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein. (4)

 

Der Morgenstern leuchtet nicht grell aus, was mich quält in der Nacht, noch überdeckt er es einfach mit seinem Strahlen. Meine Angst, meine Traurigkeit und meine Schuld werden gesehen. Der Morgenstern hüllt sie ein in ein warmes Licht des Verstehens.

Der Gedanke daran hilft mir, loszulassen, was mich in der Nacht umgetrieben hat. Ich schaue nicht länger zurück. Ich wende mich dem zu, der mich alle Morgen weckt. Ich richte meinen Blick dorthin, wo das Leben erwacht.   

Die Szenerie vor meinem Fenster hat sich inzwischen verändert: Ein warmes Licht ist aufgezogen, es taucht den Garten nach und nach in Pastellfarben und beginnt sichtbar zu machen, was zuvor im Dunkel verborgen lag. Es wird nicht auf einmal ein Licht angeknipst, sondern nur langsam, unmerklich fast, beginnen sich nach und nach die Konturen des Gartens abzuzeichnen: Schemenhaft hebt sich die Silhouette des Apfelbaums vom Hintergrund ab. Dann sind die Äste auszumachen, schließlich die Blätter.

Es ist, als würde jemand mit Pinsel und Farbpallette dastehen und mit weiten Schwüngen erst die Umrisse und großen Linien, dann die Details eines prächtigen Gemäldes zu Papier bringen. „Der Maler“, so hat Joseph von Eichendorff ihn genannt.

 

Aus Wolken, eh im nächt'gen Land

Erwacht die Kreaturen,

Langt Gottes Hand,

Zieht durch die stillen Fluren

Gewaltig die Konturen,

Strom, Wald und Felsenwand.

 

Wach auf, wach auf! Die Lerche ruft,

Aurora taucht die Strahlen

Verträumt in Duft,

Beginnt auf Berg und Talen

Ringsum ein himmlisch Malen

In Meer und Land und Luft. […] (5)

 

„Im Morgengrauen taucht die Welt von neuem auf. Der Aufgang der Sonne ist ein Schöpfungsaugenblick“ (6), so hat es der katholische Theologe Alex Stock ausgedrückt. Jedes Mal, wenn ein Tag anbricht, ist Gott neu am Werk: Er wirft das Licht auf die Erde, erschafft, erneuert und bringt die Sinfonie des Lebens zum Klingen. Jeden Morgen kommt es von Neuem zur Aufführung: Das Opus Magnum Gottes. 

In Gedanken wechsle ich die Perspektive: Würde jemand von draußen, vom Garten, auf mich blicken, wie ich am offenen Fenster sitze, dann würde auch ich für ihn jetzt, ganz allmählich, sichtbar: Ein Geschöpf, das sich aus dem Grau in Grau löst, langsam Gestalt annimmt, neu zum Leben erwacht. So, wie der Strauch im Garten, wie die Amsel, die zu ihrem Frühlied anhebt, wie die Krokusse, die bald schon als zarte Farbtupfer auf der Wiese zu sehen sind.  

Der große Maler, der Weltenkünstler lässt seine Strahlen auch auf mich fallen, haucht mir neuen Atem ein, er erhält und hält mich. Auch ich: ein Detail im Wimmelbuch des Lebens, das seine einzigartige Handschrift trägt.

 

Wie schön diese Welt ist. So rein, so fein gezeichnet im ersten Morgenlicht, dass es mir fast schon weh tut. Weil ich um ihre Gefährdung weiß, um das Vergehen, das jedem Werden innewohnt. Auch dem meinen.  

Manchmal braucht es die Schwelle, um sich des Geschenks des Lebens bewusst zu werden. Es kann die Stunde zwischen der Nacht und dem Tag sein, die mich innehalten lässt, immer wieder neu. Auf ganz andere Weise dann kann es der Moment sein, in dem ein Mensch erkennt, dass er jetzt auf der Schwelle steht zwischen dem Leben und dem Tod und dass er diese Schwelle bald, sehr bald überschreiten muss. In Judith Taschlers Roman „bleiben“ ist es ein unheilbar kranker junger Mann, der um sein nahes Sterben weiß und dessen große Sehnsucht, weiter leben zu dürfen, dem Werk den Namen gibt: „Ich weiß nur eines“, sagt er, „Ich finde das Leben schön. Und die Welt. Ich möchte gerne noch bleiben.“ Und weiter:

 

 „Ich würde so gerne den Leuten zurufen, dass sie ihr Leben genießen sollen. Es ist großartig, auf der Welt zu sein! Es ist ein Wunder, dass es uns gibt, und dass wir da sein dürfen.“ (8)

 

Den Morgen bewusst zu begehen, kann ein Einüben sein in die Dankbarkeit für das Leben in all seiner Schönheit und Vergänglichkeit, jeden Tag neu. Im „Frühling“ aus Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ habe ich im zweiten Satz eine Melodie gefunden, die für mich dieses Erleben des Morgens in Klänge fasst: zärtlich und sanft, flüchtig und mit dem Geschmack des Unendlichen zugleich. So schön eben, dass es auch ein wenig schmerzt. 

Die Pforte der Dämmerung steht jetzt offen, sie lädt mich ein, sie zu durchschreiten, hineinzugehen in den neuen Tag. Weit und hell liegt er vor mir.

Vieles wird in den kommenden Stunden geschehen, das sich meinem Einfluss entzieht. In diesem Moment aber liegt es an mir, welchen Grundton ich setze: ob ich in den Tag hineinstolpere, getrieben schon in der Früh. Oder eben: ob ich meine ersten Schritte ganz bewusst tue.

Die großen Lehrer des Glaubens haben von jeher dem Morgen eine besondere Bedeutung zugemessen. Sie haben uns Rituale geschenkt, in die ich mich fallen lassen kann, die meinem Tag von Anbeginn an einen Rhythmus geben, die einen Pflock einrammen in die dahinströmende Zeit. Was sie vermögen, hat der Theologe Wilhelm Bruners in einem Gedicht beschrieben:

 

„Nach dem morgendlichen

Gang

über die Psalmbrücke

 

drehe ich mich nicht

mehr um die eigene

Achse

 

ich atme die alten

Heilworte in meine

Tagängste

 

und bin

guter Hoffnung.“

 

Geprägte Formen aus dem Schatz meines Glaubens: Sie erinnern mich am Morgen daran, wem ich mein Leben verdanke. Sie vergewissern mich, dass ich behütet bin und bewahrt. Sie ermutigen mich, mein Leben in Gottes Namen und Sinn zu führen. Und ihn zu loben.

Seit Jahrhunderten wurden diese Gedanken in Texte und Gesten von zeitloser Schönheit gekleidet. Zu ihnen zählt Martin Luthers Morgensegen, ganz im Zeichen monastischer Tradition formuliert und konzipiert.

 

Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen.

Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen:

Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesum Christum, deinen lieben Sohn, daß du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, daß dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.

Alsdann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt. (10)

 

Ein Lied singen – es ist eine an Luthers Morgensegen teils wörtlich angelehnte Dichtung aus dem 17. Jahrhundert, die mir da in den Sinn kommt: „Gott des Himmels und der Erden“, verfasst und komponiert von dem Königsberger Domorganisten Heinrich Albert.

Die Melodie verleiht dem Wechsel von Tag und Nacht einen Klang: vom Aufgang der Sonne am Morgen bis zu ihrem Niedergang, wenn es Abend wird. Und zugleich vermögen die Worte des Liedes, in diese ewige Ordnung einen Pfahl des Bewusstseins, der Dankbarkeit und der Hoffnung einzuschlagen.

 

Ich trete durch die offene Terrassentür hinaus in den Garten. Dass ich den Morgen würdige und dem danke, der den Tag lenkt und die Nacht und „den Zeiten die Zeiten“ setzt, das ist kein Muss, keine lästige Pflicht. Es ist für mich ein Geschenk, wenn ich mir die Zeit dafür nehmen kann.

 

Im ersten Stock werden die Fensterläden geöffnet. Das Haus wacht auf. Das Verweilen an der Dämmrung Pforte ist Vergangenheit, mit ihr das Dunkel der Nacht, die besondere Schönheit des neugeborenen Morgens, die ganz eigene Empfänglichkeit für den, der die Welt jeden Tag neu ins Leben ruft. Jetzt ist es Zeit, „mit Freuden ans Werk zu gehen“, wie Martin Luther es schwungvoll formuliert hat.

 

Es ist wohl die Stimme meines Sohnes, die mich beim Weg durch den Garten zurück ins Haus an den englischen Roman „Morgens um sieben ist Welt noch in Ordnung“ denken lässt, diese Erzählung um den achtjährigen Gaylord und seine Familie, voll Wärme, Witz und Zärtlichkeit. Eine Geschichte, die auf ihre Weise den Morgen in den Blick rückt und mit ihm die großen Fragen um Unschuld und Glück, um Schmerz und Verlust und um das, was einen Menschen ausmacht.  

Es gibt eine Stelle in dem Roman, da ist der Himmel eines Abends berückend schön, und der Großvater fragt seinen Sohn Jocelyn, Gaylords Vater:

 

„Ein schönes Schauspiel […] Würdest Du sagen, daß hinter all dem ein Sinn liegt? Ist es … nur etwas, das man uns als schön beigebracht hat, oder ist es … mehr ein Ausdruck, oder etwas … eine Form der Liebe … oder ein göttliches Walten?“ Jocelyn ging weiter. „Ich weiß nicht“, sagte er endlich. „Ich glaube, uns ist nur ein kurzer Blick auf den Saum seines Gewandes vergönnt.“

 

Vielleicht ist es auch das, was für mich die Schwelle zum Morgen ausmacht: dass sie mir immer wieder einen kurzen Blick auf den Saum seines Gewandes gewährt. Was ich da sehe und empfinde, lässt mich an die Güte des Lebens glauben, trotz allem. Und sei es nur für diesen Tag.     

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. Capella Antiqua München, Gregorian Chants: Aeterne rerum conditor, CD-Titel: 1974 MPS Records 2018 Edel Germany GmbH.
  2. Er weckt mich alle Morgen, Aus: Andi Weiss: Glaubenslieder. Mediative Interpretationen am Klavier, Herder/München 2019.
  3. Vivaldi: Frühling, 2. Satz
  4. Gott des Himmels und der Erden (Strophen 1,2,5)
  5. Instrumental: J. Last: Morgens um Sieben ist die Welt noch in Ordnung.

 

Literaturangaben:
 

  1. Kurt Marti, Vom Traum, geboren zu sein, München 2003, S. 158.
  2. Zit. nach Alex Stock, morgen. Theologie einer Tageszeit, St. Ottilien 2016, S. 24.
  3. Ebd. S. 23.
  4. Zit. nach EG 16
  5. Joseph von Eichendorff, Gedichte, ausgewählt von M. L. Kaschnitz, Frankfurt / Main 1969, S. 30.
  6. Alex Stock, Morgen. Theologie einer Tageszeit, St. Ottilien 2016, S. 159.
  7. Judith W. Taschler, bleiben, München 2017, S. 191.
  8. Ebd., S. 217.
  9. Zit. nach Waldemar Pisarski, Auch am Abend wird es licht sein, München 2006, S. 140.
  10. Zit. nach EG 841,1.
  11. Eric Malpass, Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, Hamburg 1967, S. 217.