Liebe Gemeinde,
die Michaelskirche, in der wir heute Gottesdienst feiern, steht auf dem Schwanberg am Rande des Steigerwaldes. Schon von weitem sieht man den Schwanberg in die Landschaft hineinragen. Erhaben steht er da, mächtig und stolz und zugleich einladend und bergend. Es ist eine besondere Entdeckungsreise, wenn man in den Wäldern auf dem Schwanberg spazieren geht. Da sind die bunten Farben der Laubbäume, ihr unterschiedliches grün oder rot, je nach Jahreszeit. Und je nach Wetter duftet der ganze Wald entweder feucht und modrig. Oder riecht bei Sonne nach trockenem Laub. Wenn ich durch diesen Wald gehe, umgibt mich die Ruhe der Natur. So ist es sehr besonders, dass gerade inmitten dieses Waldes ein Ort der Trauer eingebettet ist. Ein Friedwald. Seit dem Jahr 2007 können auf dem Schwanberg Menschen ihren letzten Ruheort finden.
Dieser Friedwald hat einen Andachtsort, zu dem ich gestern noch hingegangen bin. Ein kleiner Platz bei den Bäumen mit einem kleinen Altar aus Stein. Über dem Altar ist ein Christus dargestellt, geschmiedet aus Metall. Er steht mit weit ausgebreiteten Armen da. Und diese weit ausgebreiteten Arme umhüllt ein Mantel so, dass er zum Schutzmantel wird. Unter dem Schutz des Mantels bergen sich Menschen. Einige sitzen bereits darunter, kniend, sehnsüchtig bittend. Andere sind erst auf dem Weg zu ihm, mit Krücken, einander stützend, so zeigt es der Altar.
Mich hat diese Darstellung inmitten des Friedwaldes sehr berührt. Gerade jetzt, ein Jahr nach Beginn der Covid-19-Pandemie, gerade jetzt, nachdem wir so viele Tote zu beklagen haben, weist mich der Ort mitten im Friedwald wieder auf den hin, der uns durch die Zeiten der Welt begleitet: Christus, der uns Menschen mit seiner Liebe, mit seiner Hingabe, mit seiner Kraft tröstet und begleitet.
Vor ziemlich genau einem Jahr begann die Pandemie. Seitdem haben wir ein Jahr voller Unsicherheit erlebt. Ein Jahr voller Kontrollverlust, voller Ängste und Sorgen. Ein Jahr zu Hause am Schreibtisch, mit Mundschutz beim Einkaufen, mit Entscheidungen, welchen Freund ich sehe und welchen nicht. Ein Jahr mit Virenwächtern und Hygieneschutzkonzepten, mit Impfaufrufen und für Manche auch mit einem schmerzlichen Abschied von einem lieben Menschen. Ein Jahr, in dem noch mehr Menschen weltweit hungern und nicht wissen, wie und wo sie arbeiten können. Eine Zeit, die uns ermüdet und erschöpft hat. Ein Jahr, das wir nie vergessen werden. „Corona“, am liebsten würde man dieses Wort verbannen und wieder von vorne anfangen dürfen.
Und mitten in diesen Zeiten hören wir nun ganz andere Worte. Wir hören die große Liebeshymne des Johannes: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“
Man muss diese Worte ganz bewusst hören, meditieren, in sich aufnehmen. Die Worte von der Liebe Gottes für die ganze Welt. „ton kosmon“ heißt es im griechischen Urtext. Gottes Liebe für den ganzen Kosmos! Eine Liebe, die den Riss in der noch unvollendeten Schöpfung überwindet und heilt. Diesen Riss, der die ganze Kreatur noch seufzen lässt. Einen Riss, der auch in dem Wüten eines Virus seinen Ausdruck finden kann. Gottes schöpferische Energie, seine Liebe für uns und den ganzen Kosmos – daran glauben, darauf hoffen wir - ist am Werk, damit das sinnlose Leiden, der sinnlose Tod endlich aufhört!
Die Worte von der Liebe Gottes zur Welt zu hören, wirklich zu hören, hilft uns, eine feste Basis für unser Leben zu gewinnen und es jeden Tag neu wieder unter den Schutzmantel Christi zu stellen, ihm zu vertrauen, uns ihm zuzuwenden, tief im Herzen verstehen zu lernen, dass er uns wirklich liebt, dass wir nicht verloren sind, sondern ihm unsere Last hinhalten können.
Wie finden wir zu solcher Geborgenheit unter dem Schutzmantel Christi? Oft fühlt es sich so an, als ob man sich durchwühlen muss durch einen Berg von Nachrichten und Bildern, die einen eher daran zweifeln lassen, dass Gott wirkt. Es braucht Anleitung und Übung, um immer wieder von neuem zu der Gewissheit zu finden, dass Christus wirklich da ist. Deswegen bin ich dankbar, dass wir den Gottesdienst ein Jahr nach Pandemiebeginn heute hier in einem evangelischen Kloster feiern, bei Schwestern, die ihr tägliches Leben auf Christus ausrichten, egal was da ist und was da kommt. Die Regeln des Heiligen Benedikt geben ihnen den Rahmen. Die Regel sagt: egal was ist, ob die Welt tobt und stürmt, ob sie sonnig ist oder nicht: Bete und arbeite, und: „suche Gott in allem, was dir begegnet, ziehe Christus nichts vor und gestalte dein Leben unter der Führung des Evangeliums“. Das ist Ihr Leitbild, liebe Schwestern. Und hinter diesen Worten steckt eine Gebetspraxis, von der wir alle in dieser Pandemie viel lernen können.
Die Klöster, die geistlichen Gemeinschaften, sind seit Jahrhunderten Orte, in denen die Beziehung zu Gott regelmäßig eingeübt und gepflegt wird. Sie wissen, was es bedeutet, treu im Gebet und in der Suche nach Gott zu bleiben, dann, wenn das Leben sonnig und schön ist, und auch dann, wenn es zehrt und zerrt, wenn es erschöpft und ängstigt. Kurz vor dem ersten Lockdown habe ich letztes Jahr einige Tage hier verbracht. Und es hat mir gut getan.
Das Gebet gibt Menschen die Kraft dazu, Gott in allem zu suchen, auch im Schweren. Aber wie können wir beten in Pandemiezeiten? Sie auf dem Schwanberg beten viermal am Tag in der Gemeinschaft das Stundengebet und die Psalmen. Diese alten Worte von Menschen, die schon vor Jahrtausenden darum gerungen haben, wie sie mit inneren und äußeren Anfeindungen umgehen sollen und wie Gott sie tröstet. Die Krisen, in denen die Psalmbeter standen, gingen durch das Gebet nicht weg, aber der Umgang mit diesen Krisen änderte sich. Die Worte der Psalmen, gesungen oder gesprochen, schreiben sich in unsere Seelen. Das regelmäßige Beten der Psalmen formt die Seele und tröstet die Seele. Die Psalmen werden selbst wie ein Schutzmantel für unsere Gefühle, gerade dann, wenn uns eigene Worte fehlen.
Zu Ihrem Gebet auf dem Schwanberg gehört auch das Lauschen auf Gott in der Stille. Zuhören, einfach da sein, nichts bitten, nichts wollen, nichts erzwingen. Nur da sein. Gerade das Gebet in der Stille lehrt, dass Gott nicht ein Erfüllergott ist, den man nur genug bitten muss und dann wird alles wieder gut. Nein, das Gebet in der Stille lehrt, dass Gott sich uns manchmal ganz anders zeigt, als wir denken. Das Gebet in der Stille ermöglicht, dass wir Christus unsere Fragen, unsere Sorgen, unsere Nöte nennen, sie ihm hinhalten können. Im Gebet lernen wir auch aushalten, dass wir manchmal keine Antwort bekommen. Dass wir nur noch einfach vertrauen können auf die wunderbare Zusage aus dem Johannesevangelium, dass Gott die Welt liebt, dass er die Welt nicht richtet, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Gottes Liebe lässt sich nicht über ein widerspruchsfreies Gedankensystem ergründen oder erfahren, nach dem das Auftreten wie das Verschwinden des Virus als direkte Folge des Eingreifens Gottes zu verstehen wäre, entweder als Strafe oder als Rettung. Nein, Gottes Liebe ist viel größer und unerforschlicher als alles, was unser Verstand begreifen kann. Woran wir uns ganz sicher festhalten können, ist derjenige, der uns hier im Friedwald über dem Altar entgegenkommt: Christus und seine weit ausgebreiteten Arme. Auf ihn schauen wir und spüren, wie Gott uns die Kraft gibt, die wir brauchen, um mit unseren Notlagen umzugehen, aber auch die Schönheiten dankbar wahrzunehmen, die uns begegnen. Seine tröstende, liebende Gegenwart spüren wir um uns.
Viermal am Tag ein Psalmengebet können wir in unseren Alltag meist nicht einbauen. Aber einmal am Tag Gott die Zeit schenken, das ist nahezu in jedem Alltag möglich. Eine Zeit der Stille, oder einen Psalm wiederholen oder ein Lied singen. Das können wir auch in einen vollen Tag integrieren. Es hilft, wenn wir das regelmäßig tun können, sei es morgens nach dem Aufstehen, sei es mittags beim 12 Uhr-Läuten, sei es abends vor dem Zubettgehen.
Und es tut gut, zu wissen, dass andere für uns beten. Sie in der geistlichen Gemeinschaft am Schwanberg tun das. Sie beten für uns alle. Darauf können wir uns verlassen. Sie sind darin Botschafterinnen der Liebe Gottes für uns. So wie die Menschen in Pflegeberufen in ihrem gerade jetzt so wichtigen Dienst für andere solche Botschafterinnen sind. Oder auch all die Eltern, die jetzt gerade über ihre Grenzen gehen bei der verlässlichen und liebevollen Betreuung ihrer Kinder. Oder die Seelsorgerinnen, die ihre Gemeinden durch die Krise begleiten.
Der heutige Sonntag trägt den Namen „Reminiszere“, übersetzt heißt das, gedenken, erinnern. Erinnert euch, ihr Menschen, an die Liebe Gottes zu uns. Vertraut auf den großen Liebeshymnus des Johannes. Und: Erinnere du dich, Gott, an deine Liebe zu uns Menschen. Wunderschön beschrieben im Psalm 25: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.
Der Andachtsort im Friedwald ist ein Ort, der mich an die Liebe Jesu Christi erinnert, die von Ewigkeit her schon immer da war und für alle Ewigkeit da ist. Christus, der mitten hineinging in die Abgründe menschlichen Lebens und diese Abgründe für uns überwunden hat. In seiner Liebe können wir uns bergen. Sie gibt uns nicht auf alles eine Antwort. Aber sie stellt uns hinein in die Gegenwart Gottes. Und sie wird uns die Kraft und den Trost geben, auch durch diese Zeit zu kommen.
Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen
Es gilt das gesprochene Wort.