Jesus heilt anders als erwartet

Evangelischer Rundfunkgottesdienst

Friedenskirche Göppingen

Jesus heilt anders als erwartet
Rundfunkgottesdienst aus Göppingen
18.10.2020 - 10:05
12.10.2020
Dagmar Köhring
Über die Sendung

Evangelisch-methodistischer Gottesdienst am Sonntag, 18. Oktober 2020, aus der Friedenskirche in Göppingen live im Deutschlandfunk ab 10.05 Uhr

 

Jesus heilt anders als erwartet. Diese Erfahrungen haben viele Menschen in der Gemeinde der Evangelisch-methodistischen Kirche in Göppingen schon gemacht. Sie hatten Probleme, sie haben gebetet, einzeln, füreinander, sie haben sich gegenseitig geholfen - und plötzlich war eine Lösung da, an die niemand bisher gedacht hatte.

 

Diese Erfahrung machen auch die Freunde eines gelähmten Mannes, von denen der Evangelist Markus in der Bibel erzählt: Sie graben sich sogar durch ein Dach, um den Weg zu Jesus für ihren gelähmten Freund frei zu machen. Aber was dann geschieht, verblüfft nicht nur sie, sondern alle, die dabei sind...

 

Wie gehen Menschen heute mit Leid um, dem eigenen oder fremdem Leid? Wie nehmen Menschen Kontakt zu Gott auf? Und welche Antworten hat Gott für sie? Pastor Hans-Martin Hoyer und sein Team stellen sich diesen Fragen im Gottesdienst aus Göppingen - ganz persönlich, theologisch und mit viel Musik.

 

Kontakt:

Evangelisch-methodistische Kirche

Pastorin Dagmar Köhring

Giebelstraße 16 * 70499 Stuttgart

Telefon 0711-86006-51

dagmar.koehring@emk.de

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen

„Der Gelähmte – doch dann war da diese Idee“

 

Eigentlich wäre sie ja schon gern mitgestiegen – doch dem stand ihre Höhenangst entgegen. Unsere Besucherin aus den USA, die eigentlich großes Interesse am höchsten Kirchturm der Welt hatte, wollte also lieber unten warten. Wir, die wir wussten, was ihr entgeht, taten unser Bestes: Fast zehn Minuten boten wir die verlockendsten Gründe an, um sie zu bewegen, mit uns den Turm des Ulmer Münsters zu besteigen. Und siehe da, ein Argument musste sie wohl überzeugt haben, oder sie wollte uns einfach nicht enttäuschen – schließlich war sie bereit, es zu wagen.

 

Diesen Aufstieg werde ich nie vergessen. Immer wieder mussten wir unsere zaudernde Turmbesteigerin neu motivieren und zum Weitergehen bewegen. Doch schließlich hatte sie sich durchgebissen und die Turmspitze erreicht. Ihre Freude war riesengroß! Der Ausblick von da oben war überwältigend, und ihr persönliches Erfolgserlebnis machte sie richtig glücklich. Es war das erste Mal, dass sie ihre panische Angst vor der Höhe so gut im Griff gehabt hatte. Später hat sie uns dann erzählt, dass ihr das seither häufiger gelang.

 

Unsere Freundin hatte sich, so viel hat sie uns später verraten, angesichts des hohen Münsterturms wie „gelähmt“ gefühlt –  gelähmt in Anführungszeichen. Sie war ja nicht körperlich beeinträchtigt. Aber „gelähmt“ kann man sich auf verschiedene Weisen fühlen:

 

Wenn ich an unsere Freunde aus dem Iran denke und wie es ihnen anfangs hier in Deutschland erging, erinnere ich mich an manche Gespräche, die das bestätigen. Sich mit wenigen deutschen Vokabeln auf einem Amt zurechtzufinden oder Amtspost zu entziffern – da kommt man sich vor wie gelähmt. Das funktioniert einfach nicht. Keine Chance. Die Suche nach einem Zimmer oder einer kleinen Wohnung war oft eine riesige Hürde. Unsere iranischen Freunde standen hilflos vor Anzeigen und Vorstellungsgesprächen und wussten nicht, wie ein erster Schritt in die richtige Richtung aussehen müsste. Wie gelähmt eben.

 

Auch die Beantragungen von Asyl oder subsidiärem Schutz in der Bundesrepublik vermittelten uns solche Erfahrungen: Ehrliche und verständnisvolle Gespräche beim Bundesamt, die Hoffnung auf Anerkennung und dann nach vielen, vielen Monaten endlich der heißersehnte gelbe Briefumschlag: Keine Anerkennung! Kein Asyl! Keinen subsidiären Schutz! Selbst uns als Begleitenden blieb einfach das Wort im Halse stecken. Wir wussten nicht mehr, was wir noch tun könnten. Situationen, die sich anfühlen, als wäre man gelähmt.

Viele dieser Lähmungs-Erfahrungen haben uns als Gemeinde gezeigt, wie einsam Geflohene sich dann fühlen können. Wie sehr man sich in solchen Situationen um sich selbst dreht und in Enttäuschung und Verzweiflung versinkt.

 

Aus Erfahrung weiß ich: Das sind eigentlich keine Situationen, in denen ich nach Anderen frage. Ich suche auch  nicht den Kontakt zu Freunden, denn – was soll das bringen? Um noch einmal ans Ulmer Münster zu denken: Es scheint soviel leichter, einfach der Schwerkraft zu folgen und die Treppen tief in die Erde hinunter zu nehmen, um sich zu verstecken, statt mühsam nach oben zu steigen. Lieber ins Dunkle verkriechen als vom Licht enttäuscht zu werden. Auch wenn es sich da unten furchtbar einsam anfühlt.

 

Wenn ich in der Stadt Besucher unseres „E-m-Ks“ treffe, höre ich ähnliche Rückmeldungen. „E-m-K“ steht für „Essen-mit-Kontakt“. Eine Aktion unserer Gemeinde, mit der wir vor Corona jeden Freitag zum Mittagessen für 2,50 EUR eine tolle Gelegenheit zum Kontakt und zum gemeinsamen Essen anbieten konnten. Für Coronabedingungen sind unsere Räumlichkeiten und Möglichkeiten, gemeinsam zu essen, leider nicht geeignet. Viele sagen mir, wie sehr sie die Freitags-Zeit beim Essen vermissen. Sie vermissen die Gespräche, den 2-Minuten-Impuls des Pastors und das freundliche Miteinander, in dem sie sich wohlgefühlt haben. Oft ist es gerade die Einsamkeit, die unsere Lebensfreude lähmt. Die Perspektive verengt sich, und wir fühlen uns wie in einem Loch.

 

So ging es vielleicht auch dem Gelähmten in der Geschichte des Evangelisten Markus. Aber zum Glück hatte er Freunde. Leute, die für ihn über den Rand seines Loches hinausgesehen haben. Leute, denen ihr gelähmter Freund am Herzen lag.

 

Und plötzlich war da diese Idee. Diese Idee, wie sie ihm womöglich helfen könnten. Und auch wenn es vielleicht 1000 gute Gründe gab, es nicht zu tun - haben sie einfach sein Bett aufgenommen und ihn voll Hoffnung davongetragen.

Eine gute Strategie. Den anderen einfach mitnehmen. Sich nicht von endlosen Grundsatzgesprächen entmutigen lassen. Keiner von ihnen wusste,  ob das zielführend sein würde? Ob es zum Erfolg führen würde? Es war ein Wagnis.

 

 

 „Der Gelähmte – Freunde helfen anders, als erwartet“

 

Freunde zu haben ist toll. Aber es kann tatsächlich auch Unsicherheiten mit sich bringen. Weil Freunde einen anderen Blickwinkel auf mein Leben haben. Und manchmal die Grenzen sprengen wollen, hinter denen ich mich verschanzen möchte. Bei meinen Freunden erlebe ich sehr oft diesen „Freundes-Blick“. Ein Blick voll echter Anteilnahme und Fürsorge. Ein Blick, der etwas in mir sieht, was ich selbst gerade nicht sehen kann. Weil ich weiß, dass sie es gut mit mir meinen, dürfen meine Freunde mir etwas raten. Wenn es gute Freunde sind, sind sie sich auch nicht zu schade, mich mal zu kritisieren. Freunde zu haben, ist etwas Schönes. Freunde-Haben.

 

Wer die Geschichte genau liest, entdeckt aber auch, dass das Freunde-Haben nur eine Seite der Medaille ist. Die andere ist: Freund-Sein. Ich empfange nicht nur Freundschaft, ich teile sie auch aus. In einer lebendigen Freundschaftsbeziehung ist immer beides da. Und dabei gehört gerade zum Freund-Sein manchmal eine Menge Mut. Wie gut kenne ich den andern? Weiß ich wirklich, was er braucht? Wann ist es richtig, seine Grenzen zu akzeptieren? Und wann bin ich aufgefordert, sie zu sprengen und ihn in seinem eigenen Interesse mitzuziehen? Die Freunde hier in der Geschichte sind sich ihrer Sache sicher. Sie haben von Jesus gehört und sehen jetzt eine echte Chance.  Und so werden sie aktiv.

 

Ich erinnere mich an ein Gespräch bei unserem Mittagstisch in der Gemeinde. In meinem geistlichen Impuls am Anfang hatte ich von Perspektiven-Veränderung gesprochen. Ich hatte meinen Zuhörerinnen und Zuhörern das Rätsel aufgegeben, alle vier Ecken eines Quadrates mit drei Geraden in einem Zug zu durchkreuzen. Wer das versucht, merkt schnell: Das geht nicht. Nicht, wenn man innerhalb des Quadrates bleibt. Es geht nur, wenn man den scheinbar vorgegebenen Raum verlässt und eine Linie über den Rahmen des Quadrats hinauszeichnet. Eine ältere Dame sprach mich auf diesen gesprengten Rahmen an. „Gerade mit meiner alten Freundin gelingt das immer wieder“, erzählte sie begeistert. „Wir stellen Fragen, die keiner bisher gestellt hat. Und dabei entstehen ganz neue Gedanken und Ansichten. Das finden wir spannend...“

 

Mich hat dieses Gespräch begeistert. Und ich habe gespürt, wie großartig es ist, mit Freunden über den scheinbar vorgegebenen Rahmen hinauszudenken und gemeinsam den Blick in neue Richtungen zu verändern. Freunde können sich gegenseitig helfen, neue Einsichten zu gewinnen und Lähmungen überwinden. Freunde nehmen sich bei der Hand oder tragen einander, wenn es sein muss. Und manchmal graben sie sich füreinander durch ein Dach.

 

Von Grenzen, die wir überwinden möchten, handelt auch das Lied, das wir jetzt zusammen singen: „Meine engen Grenzen“. Sie finden es im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 589.

 

 

„Der Gelähmte – Jesus heilt uns anders, als erwartet“

 

Ja, die Geschichte erzählt auch, wie es Jesus dabei ging. Ich stelle mir vor, wie er in diesem überfüllten Raum steht und predigt. Erste Lehmbrocken bröckeln neben ihm zur Erde. Und plötzlich wird es hell, und ein Mann schwebt an Seilen Richtung Fußboden. Beeindruckend, wie Jesus mit diesem überraschenden Moment umgeht. Der Evangelist Markus kommentiert: „Als er sah, wie groß ihr Glaube war...“ Dieses Gottvertrauen, das so unkonventionelle Wege in Kauf nimmt, gefällt Jesus. Ich stelle mir die gespannte Stille vor, die plötzlich im Raum herrscht. Vielleicht hatte der Gelähmte verzweifelt überlegt, was er sagen soll, wenn er so unerwartet vor Jesus liegt. Aber jetzt bedarf es keiner Worte mehr. Jesus erkennt die Situation mit einem Blick. Was er dann sagt, ist für alle Beteiligten mit Sicherheit eine Überraschung: „Mein Kind, deine Schuld ist dir vergeben.“

 

Damit hätte der Gelähmte nicht gerechnet. Doch Jesus trifft offenbar den richtigen Nerv: Es ist wie bei dem Rätsel mit dem Quadrat. Jesus verlässt den vorgebenen Rahmen. Er zieht die Linie weiter und erkennt den Grund dieser Lähmung. Er spürt, dass diesem Mann etwas auf der Seele liegt, etwas, das ihn von Gott trennt und seine Teilhabe am Leben behindert. Und er versichert dem Gelähmten: Zwischen Gott und Dir gibt es eine innige Beziehung, und die ist perfekt. Nichts steht zwischen Gott und Dir! Und deshalb bist auch Du perfekt.

 

Ja, auch Schuld kann lähmen. Aber wenn Du ganz sicher weißt, dass Gott uneingeschränkt zu Dir steht und Dich so akzeptiert, wie Du bist, sogar trotz deiner Schuld, dann setzt das Einiges in Bewegung. Und plötzlich löst sich eine Blockade in dem gelähmten Mann. Er soll aufstehen und vermag es zu tun.

 

Dabei begegnet uns Jesus hier gar nicht als Wunderheiler. Nein, ich glaube, es ist das unerwartete in ihn gesetzte Vertrauen, das dem Mann hilft, seine Lähmung zu überwinden. Das Vertrauen seiner Freunde und vor allem das Vertrauen, das Gott in ihn setzt.

 

Natürlich lösen sich nicht alle Lähmungen so einfach und prompt auf. Manche bleiben uns auch. Aber für  beide Erfahrungen, für die des Auflösens und die des Bleibens von Einschränkungen, bietet diese Geschichte uns neue Sichtweisen an. Zwei sind mir besonders wichtig:

 

  1. Freundschaft ist ein wunderbares Heilmittel. Indem wir aneinander Anteil nehmen, indem wir füreinander Verantwortung übernehmen und uns gegenseitig ermutigen, können wir den Einschränkungen des Lebens ein Schnippchen schlagen. Freundschaft darf bunt, kreativ und bisweilen auch ein bisschen verrückt sein – wie hier in der Geschichte. Denn nur gemeinsam, als engagierte Menschen, die aneinander glauben und sich von selbst- und fremdgesetzten Grenzen nicht beeindrucken lassen, können wir überwinden, was uns lähmt und unsere engen Grenzen sprengen.

 

  1. Weil Gott an uns glaubt, dürfen wir auch selbst an uns glauben. Egal, was das Leben uns abverlangt, welche Hürden es uns in den Weg legt und welche lähmenden Erfahrungen es für uns bereithält: Der Wert, den wir in Gottes Augen haben, wird dadurch nicht beeinträchtigt. Darauf dürfen wir uns hundertprozentig verlassen.

 

Eine spannende Geschichte. Eine Geschichte, in der wir unterschiedliche Rollen finden, die wir einnehmen können. Und eine Geschichte, die den einen Gott zeigt, der seine feste Rolle bereits eingenommen hat: Er ist und bleibt auf unserer Seite. Und das ist gut so!

Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

12.10.2020
Dagmar Köhring