Monika John
"Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht"
mit Pfarrerin Gabriele Ehrmann aus der Vesperkirche Stuttgart - der Leonhardskirche
23.02.2025 10:05
Der Radiogottesdienst live im Deutschlandfunk, mit Pfarrerin Gabriele Ehrmann aus der Stuttgarter Vesperkirche - der Leonhardskirche.
 
Vesper oder auf Schwäbisch "Veschper" ist eine Brotzeit. In den Wintermonaten wird die Leonhardskirche mitten in Stuttgart zur Vesperkirche. Hier bekommen Menschen – unabhängig davon, wie viel sie besitzen – Brot und eine Mahlzeit. Die Kirche bietet ihnen in der kalten Jahreszeit einen warmen Ort. Möglich machen das die zahlreichen Helferinnen und Helfer.

Aus der Stuttgarter Vesperkirche (www.vesperkirche.deüberträgt der Deutschlandfunk am Sonntag, 23. Februar 2025, von 10.05 bis 11.00 Uhr einen evangelischen Gottesdienst. Gabriele Ehrmann, Diakoniepfarrerin und Leiterin der Vesperkirche, sieht biblische Vorbilder für diese Arbeit: "Eine Frau namens Lydia heißt die Jesus-Anhänger Paulus und Silas in Philippi willkommen. Lydia war vermögend. Aber sie wusste, was es bedeutet, arm zu sein. Sie öffnete ihr Haus, um Gemeinschaft mit anderen zu leben. Eigentlich machen wir genau das hier in der Vesperkirche", erklärt sie. Was bedeutet es, Jesus Christus nachzufolgen, und welche Gemeinschaft entsteht dabei? Darum geht es in ihrer Predigt. 

Musikalisch wird der Gottesdienst von einer Combo um Kantor Ulrich Mangold gestaltet, bestehend aus Saxofon, Schlagzeug, Orgel und Gesang.

Link zur Vesperkirche Stuttgart
 

Lieder des Gottesdienstes:

1. EG 602, Strophen 1,2,6,7: Auf, Seele, Gott zu loben
2. KG 470, Strophe 1, 2: Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht
3. Taizélied: Christus dein Licht
4. EG 171: Bewahre uns, Gott

 

Predigt nachlesen:

In der Schriftlesung und der Predigt geht es um Lydia, eine reiche Frau, die erste Christin Europas, die ihre Türen öffnet und die Apostel Paulus und Silas willkommen heißt. Mit Lydia und Stimmen aus der Vesperkirche macht sich Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann auf die Suche danach, was es eigentlich heißt, reich zu sein. Zusammen mit Gabriele Ehrmann gestaltet der Pfarrer der Leonhardskirche Benedikt Jetter die Liturgie. Die Musik machen Ulrich Mangold und eine Combo aus Schlagzeug und Saxophon.

In der Vesperkirche Stuttgart teilen wir miteinander Brot, den Raum und noch viel mehr. Es blühen nicht Rosen, aber es wächst Gemeinschaft und Verbundenheit. Eine Zeitung nannte die Vesperkirche das Wohnzimmer der Stadt. Für nicht wenige ist sie für sieben Wochen ein Zuhause.

Von einer Frau, die, wie wir in der Vesperkirche, vor vielen Jahren ihr Haus geteilt hat, haben wir gerade in der Schriftlesung gehört. Lydia heißt sie. 

Die erste Christin Europas. Sie wird in der katholischen und orthodoxen Kirche als Heilige verehrt. Auch wenn sie nur kurz in der Bibel vorkommt – an ihr wird die Schere zwischen arm und reich besonders deutlich. 

Eine kurze Beschreibung dieser bemerkenswerten Frau. Sie ist ehemalige Sklavin, Businessfrau und Gemeindegründerin.

Lydia, so sagt der Name, kommt wohl aus Lydien, eine Region in der heutigen Türkei. Das ist weit entfernt von Philippi in Mazedonien, wo sie lebt und arbeitet. 

Vermutlich war sie früher Sklavin, also Eigentum eines anderen Menschen gewesen – auch darauf weist ihr Name hin. Sklaven wurden nach der Gegend benannt, wo sie gekauft wurden. Jetzt aber hat sie es geschafft. Wie sie es geschafft hat aufzusteigen, das erzählt die Apostelgeschichte nicht. 

Aber als Paulus und Silas ihr begegnen, besitzt sie ein eigenes Haus. Und als Purpurhändlerin ist sie reich. Purpur gefärbte Gewänder konnten sich nur wohlhabende Menschen leisten. Sie waren ein Statussymbol - wie die Markenhandtasche oder die teure Armbanduhr heute. Lydia hat es geschafft – sie gehört jetzt zu den Reichen. Sie hat die Seite gewechselt. 

Manche von unseren Gästen in der Vesperkirche sehnen sich nach einem Seitenwechsel. Wenn ich Geld im Beutel hätte und großzügig ausgeben könnte, ohne zu rechnen. Das wär schön. Und trotzdem ist dieser materielle Reichtum nicht alles. Das haben wir gehört, als wir Menschen hier in der Vesperkirche gefragt haben, was Reichtum bedeutet: 

"Zunächst einmal Zufriedenheit mit sich selbst. Der eine ist zufrieden, wenn er ein schönes Haus hat. Der andere zufrieden, wenn er ein schönes Fahrzeug vorm Haus stehen hat. Der andere ist zufrieden, wenn er mehrmals in Urlaub fahren kann. Und der andere ist zufrieden, wenn er gesund ist." 

"Reichtum bedeutet für mich, inneren Frieden zu haben und liebe Menschen um mich herum."

"Reichtum ist für mich, wenn man jemandem etwas gibt. Und Reichtum ist für mich, wenn man auch etwas von anderen bekommt, das ist für mich Reichtum."

"Reichtum wär für mich: So viel zu haben, dass man teilen kann."

"Da zitiere ich meine Tochter, die vor Jahren, als ich in großer Not war, sagte: ‚Mama, weißt du, dass du eine ganz reiche Frau bist.‘ Da staunte ich und erinnerte mich an einen Klinikseelsorger in Bayern, der im Gottesdienst uns sagte: Es ist das Wichtigste, reich zu sein in Gott. Das ist für mich stimmig." 

Reichtum ist mehr als Geld im Geldbeutel oder auf der Bank zu haben. Reichtum kann sogar etwas völlig anderes als Geld sein. Das hat auch Lydia erfahren.

Obwohl Lydia es geschafft hatte, Geld besaß, Geschäftsfrau war, war sie noch nicht richtig angekommen in Philippi. Besitz und Geld machen die Seele nicht satt. Sie suchte, suchte nach etwas; und sie fand es, als sie die Predigt von Paulus hörte. 

Paulus gründete mit ihr die erste europäische Gemeinde. Das christliche Europa fängt mit einer Geschäftsfrau aus dem Ausland an. Und genau sie öffnet ihr Haus - für Paulus und Silas und bietet Gastfreundschaft an. Sie lässt sich taufen mit ihrem ganzen Haus, also allen, die zu ihrem Haushalt gehören.

Die christlichen Gemeinden damals, und das war besonders, waren offen für Menschen aus allen sozialen Schichten. Gottes Liebe gilt allen Menschen. Und auch eine Frau kann eine Gemeinde leiten.

Ein offenes Haus, wie es Lydia hatte, das wollen wir auch als Vesperkirche sein. 
Seit 30 Jahren öffnen wir in der kalten Jahreszeit die Leonhardskirche. Seitdem gilt: Wer kommen will, ist willkommen. Wir wissen nicht, welcher Religion oder Konfession jemand angehört. Der Raum, in dem die Vesperkirche stattfindet, ist ein christlicher Kirchenraum. Und es brennen jeden Tag, solange die Kirche geöffnet ist, Kerzen auf dem Altar. Jeder Tag ist Gottesdienst, Gottesdienst im Alltag.

Die Helfenden geben jeden Tag 600 Essen aus, 35.000 in sieben Wochen. Ca. 900 Ehrenamtliche stellen sich zur Verfügung. Sie schöpfen das warme Mittagessen auf die Teller, richten die Vesperbrote, füllen die Vesperkirchentassen mit Kaffee oder Tee und bringen die gefüllten Teller an die Plätze der Gäste. 

Dazu gibt es viele weitere Angebote wie Fußpflege, Ärzt*innen, Frisöre, Tierimpfung, ein Kulturprogramm, Gottesdienste, Andachten, Straßenuniversität, Seelsorge und Beratung.

Gleich neben der Kanzel in der Vesperkirche steht ein großes Kreuz, ein überlebensgroßer Christus am Kreuz aus Holz. Er ist präsent. Das merkt man bei manchem Gespräch. Zum Beispiel bei einem Smalltalk am Tisch mit einem der Gäste: Wie geht’s? Wie immer, be …, -scheiden. Aber wir haben ja ihn und er deutet auf das Kreuz. Und ich sage: Der hat es auch nicht leicht gehabt. Ein anderer Gast: Und er hat es für uns getan. 

Für mich ist das große Kreuz in der Kirche ein Bild dafür, dass wir uns um Christus her-um versammeln und ihn um Hilfe bitten können. 

Sicher, manche, die hierher kommen, erleben sich weit entfernt von ihm oder nehmen ihn  nicht wahr. Aber andere sind gern in seiner Nähe und vertrauen sich ihm an. Alle aber, die kommen, sind Teil der Vesperkirche.

Von Christus hat damals die Gemeinschaft von Lydia empfangen, was sie ist. Und von Christus  empfängt die Vesperkirche, was sie ausmacht: einander annehmen, Gemeinschaft leben, Nächstenliebe weitergeben. Hoffnung formulieren, auch wenn das Leben verloren scheint. Und auch sozialpolitisches  und anwaltschaftliches Wirken sind Aspekte der Vesperkirche.

Plötzlich bist du drinnen und nicht mehr draußen. Das ist etwas Besonderes an der Vesperkirche. Ich kann mir vorstellen: Lydia in der biblischen Geschichte hat sich als Sklavin draußen gefühlt. Auch als fremde Geschäftsfrau hat sie sich draußen gefühlt. Da war sie auf dem Papier reich, aber hat sich innerlich leer gefühlt. Dann hat sie Paulus und Silas in ihr Haus eingeladen und Paulus hat sie hereingeholt. Wenn Christus die Mitte ist, ist keiner draußen. 

Nicht der, der aus dem Gefängnis entlassen wurde. Nicht der, der keinen Euro für das Essen hat. Nicht die, die während der Vesperkirche ihren Kühlschrank zuhause abschaltet. Wo Christus die Mitte ist, soll niemand draußen bleiben. 

Ich stelle mir vor, die Vesperkirche ist ein kleiner Vorgeschmack auf das Reich Gottes. Da kommen alle, als gebrechliche Menschen, angeschlagen, bedürftig nach Liebe und Anerkennung. Niemand wird abgewiesen. Da gibt es in Fülle Brot und Äpfel und Süßigkeiten. Und vor allem, jeder spürt, er ist willkommen. Ich glaube daran, dass Gottes Reich in der Vesperkirche beginnt. 

Wenn Lydia aus der Apostelgeschichte heute leben würde – ich kann mir vorstellen, sie wäre oft in der Vesperkirche. Lydia in der Vesperkirche Stuttgart. Das wäre der Presse eine Notiz wert. Eine reiche Bürgerin der Stadt engagiert sich. Sie streicht Brote, gibt Kaffee aus oder bedient die Gäste. Die Gründe, warum Menschen anfangen, sich hier einzubringen, sind unterschiedlich, aber passen irgendwie alle zu Lydia: Heraus aus der Einsamkeit. Dankbarkeit für das, was ich im Leben bekommen oder erreicht habe. 
Sich einsetzen für mehr Gerechtigkeit und gegen den Trend angehen, sich nur um sich selbst zu kümmern. Raus aus der Blase und sehen, wie es anderen geht. Aus einem christlichen Selbstverständnis heraus. Gemeinsam können wir etwas verändern in unserer Gesellschaft und füreinander da sein.

Etwas gegen Armut und Einsamkeit tun. Das kann man, in dem man sich in der Vesperkirche oder in anderen Projekten engagiert. Noch niederschwelliger: In dem Sie heute einem fremden Menschen etwas schenken: ein gutes Wort, eine Münze oder ein Lächeln.

Amen


Es gilt das gesprochene Wort.
 

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Kontakt zur Sendung

Pressekontakt:
Felix Weise 
Pfarrer im Landespfarramt für Rundfunk und Fernsehen 
E-Mail:   Felix.Weise@elkw.de