„Tatsächlich Liebe“ – ein Hohelied für alle

Multireligiöse Feier mit Rabbiner Andreas Nachama, Pfarrer Gregor Hohberg,  Imam Osman Oers

ekbo / Katharina Pfuhl

„Tatsächlich Liebe“ – ein Hohelied für alle
Lieder und Liebe als Wege zu Gott
28.04.2024 - 10:05
Über die Sendung:

Am Sonntag Kantate übertragen wir eine multireligiöse Feier aus dem Stadtkloster Segen in Berlin. Es predigen: Der evangelische Pfarrer Gregor Hohberg, Rabbiner Andreas Nachama und Imam Kadir Sancı von der Stiftung House of One Berlin.

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Predigt zum Nachlesen:

Rabbiner Andreas Nachama:

Im traditionellen Judentum wird das Hohelied entweder im Morgengottesdienst während der Pessachwoche in der Synagoge gelesen oder an den häuslichen Sederabenden. Solche Abende kann man sich nicht fröhlich und zugleich tiefsinnig genug vorstellen: Diese Abende sind d a s jüdische Familienfest. In Form eines Gesamtkunstwerks werden Erzählung des Auszugs aus Ägypten, Lieder und Festessen zu einem fröhlichen, zugleich tiefsinnigen Abend vereint. Jede Speise hat eine symbolische Bedeutung. Zum Beispiel stehen bittere Kräuter für die bitteren Jahre, in denen die Israeliten Sklaven in Ägypten waren.

Ist die Haggada – die in einem Büchlein zusammengestellte Auszugsgeschichte – gelesen, wird oftmals dann noch das Hohelied in Form einer eher gesungenen Rezitation gelesen.

Der Bezug des Hoheliedes zum Pessach wurde von den Rabbinern über den folgenden Vers hergestellt:

"Mit den Stuten an Pharaos Prachtgefährt vergleiche ich dich, meine Freundin […]." 

Vielleicht ist es aber doch nicht der Zusammenhang mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten, sondern eher die Frühlingsatmosphäre, die das Hohelied mit Pessach verbindet: Man könnte doch "Chag haMazot" – das Fest der ungesäuerten Brote,

und des "Maror", also die Wurzelfrucht wie Rettich

und des Karpas, des Grünzeugs, auch als Fest der frischen Erstlingsfrüchte ansehen – dazu würden viele frühlingshafte Bezüge des Hoheliedes passen.

Und, liebe Hörerin und lieber Hörer, da wir Juden uns noch in der Pessachwoche befinden, passt das Hohelied gut zu dieser Morgenfeier hier im Deutschlandfunk. Es verbindet Religionen.

Wenn man das Hohelied zu lesen beginnt, könnte man verstört sein: Das steht wirklich in der Bibel? Was ist das für ein merkwürdiger Text, in dessen erstem Kapitel es heißt:

"2
Mit den Küssen seines Mundes küsse er mich!
a, deine Liebe ist köstlicher als Wein.

3
An Duft sind lieblich deine Salben;
ein Name ist glättendes Öl;
darum haben die Mädchen dich lieb."

An dieser Stelle kommt nun die Frage auf: Wo hat das Hohelied seinen Ursprung? Wie war wohl seine "Aufführungspraxis"?

Im Midrasch Rabba, einer alten Predigtsammlung, lesen wir dazu:

"Wo wurde das Hohelied erstmals vorgetragen? - Am Schilfmeer, d.h. nach dem Durchzug der Israeliten bei der Flucht aus Ägypten mit Bezug auf Vers 1,9 'Mit den Stuten an Pharaos Prachtgefährt vergleiche ich dich.'“

Rabban Gamliel hingegen vertritt die Meinung, dass die Dienstengel es bei der Verkündung der Zehn Gebote gesagt hätten:

"Würde er doch uns einige der Küsse geben, die er seinen Kindern, den Israeliten, gibt"!

Hier nimmt die bis heute gängige allegorische Interpretation des gesamten Hoheliedes ihren Ausgangspunkt. Demnach drückt das Hohelied einerseits die Liebe zwischen Gott und SEINEM Volk aus und andererseits die Liebe zwischen dem gläubigen Gottesvolk und Gott.

Berühmtestes Zitat des Hoheliedes im 20. Jahrhundert ist die "Sulamith" in Paul Celans Todesfuge. Celans Sulamith bildet die jüdischen Opfer der Schoa ab, mit der das Gedicht endet: „dein aschenes Haar Sulamith". Im Hohelied ist Sulamith dagegen die wunderschöne Braut, deren "Hauptes Geflecht Königspurpur gleicht" (Hohelied 7,6). Wie immer man das Hohelied verstehen mag, ob als Hochzeitslied, als Liebesdialog zwischen Sulamith und einem Hirten oder als Allegorie der Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel, Celan hat die gesamte grausame Schoa in dieser einen Zeile festgehalten:

Im 20. Jahrhundert wurde so aus der wunderschönen Sulamith des Hoheliedes ein piktogrammähnlicher Klagevers. Das Bild vom aschenen Haar vergisst man nicht.

Bleibt die Frage: Wie verstehe ich das Hohelied heute?

Ist es als eine Allegorie zu verstehen, wie das Generationen von Rabbinern geglaubt und gelehrt haben,

Ist es wie im 19. Jahrhundert wissenschaftlich ergründet wurde, ein Hochzeitslied aus alter Zeit, das vielleicht aufgrund eines rabbinischen Missverständnisses seinen Weg in die Bibel gefunden hat

Oder ist es eine Sammlung von Liedern, die – wie die Sprüche Salomons auch – zwar ein Ganzes ergeben, aber nicht als ein Ganzes entstanden sind?

Ein Hochzeitslied in der Bibel?

Zu kurz gesprungen!

Eine Liedsammlung eher willkürlich zusammengefügt?

Dazu ist es dann doch zu homogen.

Oder so wie das Psalmenwort (PS 62,12) es beschrieben hat:

"Eines hat Gott gesprochen, zwei Dinge sind es, die ich vernahm."

 

Meine Antwort lautet so:

Ja, es ist zum einen ein Hochzeitsgebet, eines, das in der Hochzeitswoche für das Paar gebetet wurde. Zum anderen setzt es das Paar gleich mit der Beziehung Israels zu Gott.

So klingt es da:

"2
Mit den Küssen seines Mundes küsse er mich!
Ja, deine Liebe ist köstlicher als Wein.

3
An Duft sind lieblich deine Salben;
dein Name ist glättendes Öl;
darum haben die Mädchen dich lieb."

Durch die Hochzeit eines Paares wird das Erbe einer Generation weitergegeben – und damit hat das Hohelied nicht nur eine Bedeutung für eine individuelle Hochzeit, sondern zugleich auch eine allegorische Bedeutung, die universal und immer gilt:

Wir lieben Gott – und er – unser Hirte – liebt uns. 

Amen!

 

Pfarrer Gregor Hohberg:

Liebe Gemeinde, hier im Stadtkloster Segen in Berlin, zuhause oder unterwegs – wo auch immer Sie uns jetzt zuhören:

So klingt das Hohelied der Liebe in unserem Jahrtausend – ich zitiere:

„Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle am Flughafen...

Es wird immer behauptet, wir leben in einer Welt von Hass und Habgier, aber das stimmt nicht… wir sind überall von Liebe umgeben.

Oft ist sie weder besonders glanzvoll noch spektakulär, aber sie ist immer da. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Paare, frisch Verliebte, alte Freunde…

Ich glaube, wer darauf achtet, wird feststellen können, dass Liebe tatsächlich überall zu finden ist.“

Mit diesen Sätzen beginnt mein Lieblingsfilm: Tatsächlich Liebe. 2003 kam er in die Kinos. Er erzählt in vielen, kleinen Geschichten von etwas ganz Großem.

Es ist kein religiöser Film, aber er zeigt, dass die Liebe weltweit zuhause ist und in jedem Menschen wohnt.

Die Liebe unterscheidet nicht zwischen jung und alt oder arm und reich, nicht zwischen jüdisch, christlich und muslimisch, gläubig oder nicht oder zwischen östlich und westlich.

Die Liebe ist voller Vielfalt. Auch davon erzählt der Film:

Wie Liebe wächst und wankt, wie sie kämpft oder zweifelt. 

Wie sie tröstet, wartet oder Erfüllung findet. 

Der Film macht Lust auf die Liebe. Genau das teilt er mit dem Hohelied der Liebe aus der Bibel.

Auch das ist kein religiöser Text. Gott kommt darin gar nicht vor. Es ist Liebeslyrik. Wie ein leidenschaftliches Gedicht.

Und die Liebe, auch diese und alle Liebe, ist für Glaubende von Gott. Aus diesem Grunde steht dieser Text in der jüdischen und christlichen Bibel.  

Das ist eine Erfahrung, die die Heilige Schrift durchzieht: Gott ist die Liebe.

Das heißt:

Wenn ich liebe, ob meine Partnerin, meine Kinder oder meinen Freund;

ob meine Katze oder die Pflanzen im Garten,

wenn ich liebe, bin ich mit Gott verbunden.

Darum ist die Liebe für Gott das Allerwichtigste.

Darum trägt er sie immer wieder und unermüdlich an uns heran – auf unterschiedlichen Wegen und in allen Facetten.

 

Im Hohelied heißt es:

Siehe, mein Freund kommt. Hüpft und springt über die Berge zu mir.

Der Winter ist vergangen,

Blumen blühen, Turteltauben gurren und Weinstöcke duften.

Er ruft: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!

Zwei Verliebte, ein Mann und eine Frau, zieht es zueinander.

Diese beiden könnten Gott und sein Volk Israel sein.

Oder Christus und die Kirche. So verschieden haben Menschen es gedeutet.

Oder Gott und Du. Jede, jeder einzelne von uns.

In poetischer Sprache wird von der Liebe zwischen zwei Menschen erzählt.

Und wenn solche Liebe auch zwischen Gott und Dir lebte?

Die große Mystikerin, Hildegard von Bingen, beschrieb ihren Liebesglauben an Gott so:

O Schönster von allen, Du starker Löwe,
O zärtlicher Liebender, der uns liebreich umfängt.
Lass uns nimmer von Dir getrennt sein.

Das sind Worte, die alles von Gott erwarten, die das Leben in seine Hände geben,

die ganz auf seine Liebe setzen.

Versenkung und Hingabe zwischen Gott und uns.

Zwischen Dir und Gott.

Darum:

Überall da, wo es um die Liebe geht, lassen sich auch Verbindungen zu Gott finden.

Das sind nicht immer Frühlingsgefühle.

Liebe begegnet im Trost, den ich spüre, wenn ich einsam bin.

Liebe ist im Schützengraben, wenn der Soldat nach dem Foto seiner Frau tastet.

Sie ist im Leid, wenn mein Freund um seine Tochter weint.

Ja, Liebe berührt, sie schmerzt, sie bewegt und heilt. All das tut sie auch.

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! – heißt es im Hohelied:

Gott sieht und ruft mich - in Liebe.

Das gibt mir Mut. Mich zu öffnen und seine Liebe anzunehmen.

Sie zu glauben. Trotz meiner Fehler und meiner Verletzlichkeit.

Und:

Liebe findet ihren Ausdruck über diese Zweisamkeit hinaus.

In der Familie, in der Gemeinde und auch in der Gesellschaft.

Dort gelten, geprägt von der jüdisch-christlichen-muslimischen Tradition, Solidarität und Menschenrechte als Ausdruck der Liebe.

Immer wieder wird in der Politik ihre Bedeutung für unser Zusammenleben in Frage gestellt:

Die Liebe taugt nicht, um Flüchtlingsprobleme zu lösen.

Sie kann Kriege nicht beenden und unser Land nicht schützen.

Aber das stimmt so nicht.

Als Christ glaube ich: Die Liebe ist auferstanden und sie lebt – seit Ostern.

Auch heute mitten unter uns. Darum:

Gebt der Liebe all Euer Hoffen und allen Glauben

und sie wird sich als wahre, göttliche Friedensmacht erweisen.

Die Liebe entfaltet ihre Kraft ja gerade im heilenden Umgang mit Leid und Tod, mit Versäumnissen und Schuld.

Diese Liebe ist in die Seele eines jeden Menschen gelegt. Tatsächlich Liebe.

Wenn Liebe tatsächlich überall zu finden ist, dann gibt es auch überall Wege zu Gott,

über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg.

Im füreinander da Sein. Im Gebet, Seite an Seite.

Im House of One. Jetzt in diesem Moment.

 

Die Liebe verbindet uns und sie verbindet mit Gott.

Die Liebe ist das Band der Vollkommenheit.

Amen.

 

Imam Osman Oers:

Koranzitat und islamische Auslegung

Bismillahirrahmanirrahim

فَقَالَ اِنّي اَحْبَبْتُ حُبَّ الْخَيْرِ عَنْ ذِكْرِ رَبّيۚ حَتّٰى تَوَارَتْ بِالْحِجَابِ۠

„[Salomon] sagte: Fürwahr, meine Liebe zu diesen Pferden dient dem Gedenken an meinen Herrn. Und [die Pferde] verschwanden hinter einem Schleier.“

Im Koran (Sure 38, Vers 32) wird von der großen Liebe des König Salomons zu den Pferden erzählt. Möglicherweise war seine Liebe zu diesen Pferden so groß, dass sie ihn beinahe vom Gedenken an Gott abgelenkt hätte. Einige Koranexegeten schreiben, dass diese Pferde das Erbe seines Vaters, des Königs David, gewesen seien. Vielleicht empfand er deshalb eine so große Verbundenheit zu diesen Tieren. König Salomon war in die Bewunderung dieser edlen Pferde vertieft. Als die Sonne unterging und diese wunderbaren Tiere – wie hinter einem Vorhang – in der Dunkelheit verschwanden, erwachte Salomon von seinem Liebestraum.

In diesem Moment wurde dem König bewusst, dass er die Geschöpfe um des Schöpfers willen liebte. Er wandte sich von ihnen ab und richtete seine Gebete an seinen Herrn. Dies ist die Gottesliebe Salomons, über die der Koran berichtet.

In Sure 30, Vers 21 heißt es außerdem:

 وَمِنْ اٰيَاتِه۪ٓ اَنْ خَلَقَ لَكُمْ مِنْ اَنْفُسِكُمْ اَزْوَاجًا لِتَسْكُنُٓوا اِلَيْهَا وَجَعَلَ بَيْنَكُمْ مَوَدَّةً وَرَحْمَةًۜ اِنَّ في ذٰلِكَ لَاٰيَاتٍ لِقَوْمٍ يَتَفَكَّرُونَ

„Und zu den Zeichen [des Herrn] gehört, dass Er für euch aus euch selbst Partner erschaffen hat, auf dass ihr Ruhe bei ihnen findet. Und Er hat zwischen euch Liebe und Zärtlichkeit gestiftet. Hierin sind wahrlich Zeichen für Menschen, die nachdenken.“ (Q 30:21)

Die Liebe, die wir zur Natur, zu den Tieren und zu unseren Mitmenschen empfinden, ist ein Segen Gottes. Die Liebe und Zärtlichkeit, die wir unserem Lebenspartner entgegenbringen, ist ein Geschenk Gottes, und wir Menschen haben gemäß dem Koran den Auftrag, die Weisheit dahinter zu erforschen und zu erkennen.

Der Prophetengefährte az-Zubair ibn al-ʿAuwām (gest. 656) überlieferte folgende Worte des Propheten Muhammed – Friede und Segen seien auf ihm:

„Eine Krankheit, die bereits vor euch die Gemeinschaften befallen hat, ist der Neid und der Hass. Und Hass ist das Rasiermesser, welches die Religion abschneidet und nicht die Haare. Ich schwöre bei Dem, in Dessen Hand die Seele Muhammeds – Friede und Segen seien auf ihm – ruht. Ihr glaubt nicht [wahrhaftig], solange ihr einander nicht liebt. Soll ich euch etwas mitteilen? Wenn ihr es tut, werdet ihr Liebe füreinander empfinden: efšūʾs-selām beynekum! (Verbreitet den Frieden unter euch!)“ (Ibn Ḥanbal 7, 8).

Hass, Neid und die daraus entstehende Gewalt sind Krankheiten der Menschheit. Diese Krankheiten müssen aber nicht zwangsläufig schlecht sein oder schlecht bleiben. Es hängt von uns ab, ob wir uns der Krankheit ergeben oder sie als eine Prüfung annehmen. Sollten wir sie als eine Prüfung betrachten, können wir sie zum Guten wenden. Eine Krankheit kann nur geheilt werden, wenn wir uns ihrer bewusst sind, sie ernst nehmen und das richtige Heilmittel anwenden.

Gefühle wie Hass und Neid können gelenkt werden. Hass, als tief empfundene Abneigung, kann beispielsweise gegen Ungerechtigkeit gerichtet sein, anstatt gegen Menschen. Anstatt in Hass gegen Menschen zu verfallen, können wir unsere Gefühle nutzen, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Ebenso können wir anstelle von Neid Bewunderung empfinden. Auf diese Weise würden wir der Gewalt die Grundlage entziehen und dem Frieden Raum geben.

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.