Heimat

Heimat

Gemeinfrei via pixabay.com (Mystic Art Design)

Heimat
Gedanken zu einem umstrittenen Begriff
09.09.2018 - 07:05
27.06.2018
Dietrich Heyde
Über die Sendung:

Geblieben sind die Bilder, Schätze der erlebten Zeit. Erinnerung hat die Kraft, sie zu vergegenwärtigen. Geblieben sind die Bücher. Ein Buch kann zu einer „mitwandernden Heimat“ (Gershom Scholem) werden. 

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Sendung nachlesen:

Am Tag der Heimat der Vertriebenenverbände in Berlin 1996 kam es zu einem Zwischenfall. Ein Besucher der Veranstaltung beschimpfte den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog während dessen Rede als Vaterlandsverräter. Was war vorausgegangen? Nach Herzogs Worten hat das vereinigte Deutschland keine Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete. Er sagte:

 

„So schmerzhaft die Erkenntnis für Menschen ist, die in Hinterpommern, Ostpreußen oder Oberschlesien als Deutsche in Deutschland geboren sind. Diese Gebiete sind heute völkerrechtlich unbestritten polnisches bzw. russisches Gebiet. Sie gehören zu unserem geschichtlichen und kulturellen Erbe, aber nicht mehr zu unserem Staat.“

 

Die Kraft, so der Bundespräsident, müsse jetzt darauf konzentriert werden, bestehende Grenzen niedriger und durchlässiger zu machen und ein gemeinsames Europa aufzubauen. Daraufhin erfolgte der Zwischenruf „Vaterlandsverräter“, den Herzog scharf zurückwies. Der Zwischenruf und die darauf folgende Diskussion in den Medien haben gezeigt, dass im vereinigten Deutschland Bedarf ist, Inhalte wie „Vaterland“ und „Heimat“ klar und deutlich zu bestimmen:

 

Mit „Heimat“ verbinden wir zumeist Orte und Landschaften, in denen wir nicht notwendig die meisten Jahre verbracht haben müssen, wohl aber die Zeit, die uns höchst intensiv und nachhaltig geprägt hat. Und das sind oft die Jahre unserer Kindheit und Jugend. Straßen, Häuser, Plätze und Berge, Hügel, Flüsse haben der jugendlichen Seele einen Stempel aufgedrückt, der im Verlauf unseres Lebens wohl an Konturen verlieren, aber durch nichts weggewischt oder ausgelöscht werden kann.

 

Ich erinnere mich an einen Mann, der die frühen Jahre seines Lebens in Zoppot bei Danzig verbracht hat. Nach dem zweiten Weltkrieg kam er nach Flensburg, wo er 17 Jahre, später nach Schleswig, wo er 33 Jahre wohnte. Wohl hat er sich in Schleswig und zuvor in Flensburg zu Hause gefühlt. Aber „Heimat“, sagte er, blieb ihm Zoppot, das Ostseebad bei Danzig, die kleine Stadt mit ihren 30.000 Einwohnern, in der er groß geworden ist. Dorthin wanderten immer wieder seine Gedanken und Erinnerungen.

 

Nun ist interessant, dass dieser Mann nach Jahrzehnten den Ort seiner Jugend wieder besucht hat, aber enttäuscht und ernüchtert zurückkam. Warum? Weil Zoppot nicht mehr das Zoppot war, wie er es in den zwanziger und dreißiger Jahren erlebt und in der Erinnerung bewahrt hat. Es fehlte, sagte er, die lebendige Farbe, das Leben, wie er es von damals im Gedächtnis hatte.

Was war geschehen und ihm widerfahren?

 

Nun – er hat schmerzlich feststellen müssen, dass auch Orte und Landschaften, die wir „Heimat“ nennen, keine statischen, sondern dynamische Größen sind. Auch sie sind wie wir Menschen der Zeit und Geschichte unterworfen und verändern sich. Weil wir alle heute nicht mehr die sind, die wir gestern waren, finden wir nicht mehr die Orte und Landschaften, wie sie unser Gedächtnis gespeichert hat. Geblieben sind nur die Bilder von einst; Bilder, die wir wohl kraft der Erinnerung vergegenwärtigen können, die aber nicht mehr der Realität entsprechen.

 

Problematisch in biblischer Sicht wird mein Verständnis von „Heimat“ dann, wenn ich die Sehnsuchtsbilder meiner Erinnerung mit Besitzansprüchen auf reale Orte und Landschaften verknüpfe. Marion Gräfin Dönhoff, die auf Friedrichstein bei Königsberg ebenfalls prägende Jahre erlebte, sagt, worauf es ankommt:

 

Landschaft ist wichtiger und gewiss prägender als alles andere. Im Osten ist eine Welt gewesen, die noch von der Natur bestimmt war und von einer gewissen Ehrfurcht. Das Höchste aber sei, zu lieben, ohne zu besitzen.

 

Heimat ist fraglos etwas Großes und Unverzichtbares. Aber muss ich, um Heimat zu erleben, auch Heimat besitzen? Muss ich mit den Bildern von Heimat, die in mir sind, zugleich Besitzansprüche anmelden? Der jüdische Philosoph Abraham Joshua Heschel sagt:

 

„Der Raum trennt, die Zeit eint. Wir führen Kriege um Dinge des Raums; die Schätze der Zeit stehen jedem offen.“

 

Niemand und nichts kann uns die Zeit nehmen, die wir an einem bestimmten Ort gehabt haben, ja kraft der Erinnerung auch jetzt noch besitzen. Es sind die Schätze erlebter Zeit, die verbinden. Das Vergangene lieben, ja, aber ohne Räumliches besitzen zu wollen. Denn wo erneut Besitzansprüche geltend gemacht werden, da ist man schon auf Kollisionskurs mit anderen Völkern – Polen, Russen, Tschechen u.a. -, die jetzt diese Orte und Landschaften bewohnen. Und anstelle von Recht und Gerechtigkeit, die ich meine, geltend machen und einklagen zu müssen, geschieht neues Unrecht. Heimat ist an Raum und Zeit gebunden. Ja, aber nicht daran, dass ich – oder ein Volk – diesen Raum auch besitzen muss. Ich meine, der Königsberger Philosoph Immanuel Kant hat Recht, wenn er sagt:

 

„Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß, und es könnte sein, dass die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird, und gewinnt, indem sie verliert.“

 

Bezeichnenderweise wird uns nicht jeder beliebige Raum zur Heimat. Wir können jahrelang an einem Ort leben, ohne ihn als Heimat zu empfinden. Wie aber kommt es, dass uns bestimmte Orte zur Heimat werden, andere aber nicht? Es muss etwas zu einem Ort hinzukommen, ein Unverwechselbares, etwas, das eben diesen und keinen anderen Ort für uns zur Heimat macht. Dieses Unverwechselbare ist ein Geistiges, das auf Seelenverwandtschaft hinweist. Ich nenne es „genius loci“.

 

Genius loci ist die schöpferisch-kreative Kraft, die einem Ort oder einer Landschaft innewohnt. Er ist nur verborgen da und nicht zu jedem Zeitpunkt wahrnehmbar. Man kann jahrelang irgendwo sein, ohne ihn zu spüren. Es kann aber auch geschehen – bisweilen schon nach kurzer Zeit, dass Ort und Landschaft so ansprechen und beseelen, als würden von ihnen Funken ausgehen. Wenn diese Funken einen Menschen entflammen, anregen, inspirieren – dann ist er auf den genius loci gestoßen. Und er ist es, der einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Landschaft zur Heimat macht.

 

Wo sich der genius loci mitteilt – und das war, um einige große Namen zu nennen, z.B. bei Goethe auf seiner Italienreise der Fall, bei Winckelmann die Begegnung mit der griechischen Antike, bei Thomas Mann die Landschaft der Kurischen Nehrung, bei Emil Nolde im Sommer 1919 die Halliglandschaft – da werden Orte oder Landschaften Teil meiner selbst, meiner Identität und Persönlichkeit. Ich könnte auch sagen, da ist zwischen Mensch, Ort und Landschaft eine dialogische Situation entstanden – nicht wie zwischen einem Objekt und einem Subjekt, sondern zwischen Subjekt und Subjekt, zwischen Ich und Du. Was der kairos, der günstige Augenblick, für die Zeit ist, das ist für den Raum der genius loci.

 

Eigentümlich ist nur, dass wir den genius loci nicht selten erst dann spüren, wenn wir von einem Ort oder einer Landschaft Abschied nehmen. Erst mit der Trennung wird uns die Bedeutung eines durchschrittenen Zeit-Raums ganz bewusst.

 

Vielleicht ist das darum so, weil wir im Abschied am meisten lieben, wie es heißt. Jedenfalls ist es der genius loci, der unser Herz höher schlagen lässt, uns mit Sehnsucht erfüllt, ja Tränen in die Augen treibt, wenn wir (Jahre später) an bestimmte Orte und Landschaften denken. Der Kabarettist Hanns-Dieter Hüsch definiert Heimat einmal mit diesen Worten:

 

„Meine Heimat ist meine Kindheit.“

 

Wenn ich Heimat so erkläre, kann ich sie kraft der Erinnerung jederzeit vergegenwärtigen, wann immer ich möchte. Ich nehme keinem etwas weg, sondern trage Heimat mit mir wie einen kostbaren Schatz, den mir keiner nehmen kann.

 

Denken wir einmal an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Jesus erzählt (Lukas 15,11-32). Dem Verlassen des Vaterhauses geht eine Kindheit und Jugend voraus, von der wir im Gleichnis nichts ausdrücklich erfahren, dürfen aber annehmen, dass es für den Sohn, der sich sein Erbe auszahlen lässt, prägende Jahre gewesen sind. Denn in dem Augenblick, als sein Leben seinen absoluten Tiefpunkt erreicht, erinnert er sich an sein Zuhause und kehrt heim. Sein exzessives, ausschweifendes Leben hat es nicht vermocht, die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend im Vaterhaus auszulöschen.

 

Er kehrt um! Im hebräischen Wort für Umkehr, teschuva, steckt das Wort „Heimkehr“. Umkehren im biblischen Sinne ist ein Heimkehren zu seinen Wurzeln, zu seinem Ursprung. Das aber ereignet sich nur dort, wo mir zuvor ein Ort oder eine Person Heimat war.

Nun ist es aber so, dass der Vater im Gleichnis Züge des himmlischen Vaters trägt. Wenn wir das Gleichnis unter dem Aspekt der Heimat betrachten und verstehen, dann macht Jesus hier deutlich, dass Heimat gar kein irdischer, sondern ein himmlischer Ort ist. Gott ist des Menschen Heimat.

 

Als im Jahre 150 n. Chr. der Nichtchrist Diognet einen Christen fragte, was das besondere Kennzeichen der Christen sei, erhielt er diese Antwort:

„Christen wohnen in ihrem eigenen Vaterland als Fremdlinge.“

 

„Fremdlinge im eigenen Vaterland“ – das klingt ungemütlich, vielleicht sogar anstößig. Aber der frühen Christenheit war dieses Kennzeichen sehr wichtig. Das zeigt der erste Petrusbrief, der mit den Worten beginnt:

 

„Petrus, Apostel Jesu Christi, an die Fremdlinge in der Zerstreuung in Pontus, Galatien, Kappadozien, Asia und Bithynien .“

 

Und später heißt es:

 

„Ihr Geliebten, ich ermahne euch als Pilger und Fremdlinge.“

 

Dies ist ein unverzichtbares Kennzeichen der Christen: Sie sind Pilger und Fremdlinge. Diese biblische Wahrheit ist immer neu zu entdecken. Was aber die Christen als Pilger und Fremdlinge kennzeichnet, ist dies: Sie haben nur leichtes Gepäck. Denn je mehr wir haben, je mehr wir auf unserem Lebensweg mitnehmen möchten, desto kürzer unser Weg. Sollten wir nicht die Welt wie eine Herberge gebrauchen, aus der wir in Kürze ausziehen müssen? Nicht zufällig heißt es im Hebräerbrief:

 

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14)

 

Die Straße, die wir auf dieser Erde gehen, ist nicht das Ziel unseres Lebens. Sie ist nur Übergang. Wenn wir erkannt haben, dass das Ziel menschlichen Daseins jenseits der Straße dieser Welt liegt, dann gehen und leben wir anders, viel gelassener, leichter und freier. Wir verlieren unser Herz nicht mehr an die Dinge der Welt. Wir erfahren uns als Kinder der Freiheit.

 

Und wir sind unterwegs von Ufer zu Ufer, aus der Zeit in die Ewigkeit, unterwegs mit der Zusage Gottes: Ich bin bei euch. Nicht zufällig ist einer der Namen für Gott in der jüdischen Tradition „ha-makom“, der Ort. Gott ist der „Ort“ schlechthin, der unser Woher und unser Wohin ist. Von ihm sagt der Apostel Paulus, dass uns von Ihm nichts trennen kann, weder Hohes noch Tiefes, weder Leben noch Tod (Römer 8,38-39).

 

Das Spektrum dessen, was „Heimat“ bedeutet, reicht weit. Auch ein Buch kann mir zur Heimat werden. Im Jahr 1937, im Deutschland der Nationalsozialisten, veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Walter Benjamin ein Buch mit dem Titel „Deutsche Menschen“.

 

Eine Folge von Briefen, z.B. Samuel Collenbusch an Immanuel Kant oder Friedrich Schlegel an Schleiermacher. Es tauchen Namen auf wie Pestalozzi, Zelter, Goethe, Büchner, Keller, Storm, Nietzsche.

 

Das sind wunderbare Dokumente, die sich über einen Zeitraum von hundert Jahren, von 1783 bis 1883 erstrecken. Walter Benjamin hat diese Briefe mit einer sprachlich und inhaltlich glänzenden Einleitung versehen. Als Benjamin im Januar 1937 das Buch an seinen Freund Gershom Scholem schickte, schrieb Benjamin hinein:

 

„Möchtest du für die Erinnerungen deiner Jugend eine Kammer in dieser Arche finden, die ich gebaut habe, als die faschistische Sintflut zu steigen begann.“

 

Ein Buch als Arche, als rettendes Element vor der faschistischen Sintflut! Benjamin wollte mit der Folge von Briefen eine Antwort geben auf die Frage: Wer oder was ist Deutschland in Wahrheit? Das ist doch nicht Nazi-Deutschland. „Deutsche Menschen“ sind nicht jene, die zwischen 1933-45 das Sagen haben. Nein, die in diesem Buch vereinigten Namen sind das eigentliche, wahre Deutschland. Aufschlussreich ist, was Gershom Scholem wiederum seinem Freund antwortet. In „Benjamin – Geschichte einer Freundschaft“ notiert er:

 

„In ein Buch hat der Autor eingefangen, als Arche konstruiert, was der Sintflut widerstehen kann. Wie sich die Juden vor den Verfolgungen in die Schrift retteten, ins kanonische Buch, so bildet sein eigenes Buch ein nach jüdischem Vorbild verfasstes rettendes Element.“

 

Tiefe und Qualität muss ein Buch haben, um zur Heimat zu werden. Menschen eines Buches können es sein, die der Vergangenheit angehören und doch gegenwärtig sind. Sie können längst tot sein, jedoch in mir kraft der Erinnerung lebendiger sein als meine Zeitgenossen. Gershom Scholem sagt:

 

„Die Juden haben sich vor den Verfolgungen in die Schrift gerettet, ins kanonische Buch. Zu einer „mitwandernden“ Heimat wurde ihnen die Tora in der Völkerwüste.“

 

Nicht nur Juden, auch Christen haben in der Bibel ihr Zuhause, ihre Heimat gefunden. Dieses Buch versteht es, Herzen aufzuschließen und zu gewinnen. Es vermag Lebensräume zu öffnen – eben neunhundert Jahre menschlicher Erfahrung und Geschichte vor und mit Gott. Das Buch der Bücher hat mich in Landschaften der Seele hineingenommen, die mir unverzichtbar geworden sind. Die Jahresbibel, mit deren Hilfe ich einmal im Jahr alle biblischen Schriften „durchwandere“, ist mir Atemhilfe und zu einer mitwandernden Heimat geworden.

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Adagio, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel, Telemann – Tafelmusik
  2. Dolce, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel, Telemann – Tafelmusik
  3. Flaterie, Ahlgrimm, Koch, Kob, Air. Die schönsten barocken Melodien
  4. Bergerie, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel, Telemann – Tafelmusik
  5. Badinage, Ahlgrimm, Koch, Kob, Air. Die schönsten barocken Melodien
27.06.2018
Dietrich Heyde