Liebt Gott den, dem er Saures gibt? (R. Gernhardt)

Morgenandacht
Liebt Gott den, dem er Saures gibt? (R. Gernhardt)
17.11.2016 - 06:35
17.11.2016
Pfarrerin Marita Rödszus-Hecker

Sie hielt es einfach nicht mehr aus. Sie konnte nicht länger mit ansehen, wie ihr Mann leiden musste, der schon seit Wochen im Krankenhaus lag. Und so schrieb sie in das Buch in der Krankenhauskapelle: „Bitte, lieber Herr, hilf meinem Mann und erlöse ihn von den unerträglichen Schmerzen, egal, wie es mir dabei geht“. Sie hatte nur noch den einen Wunsch: dass Gott dem körperlichen Leiden ihres Mannes ein Ende setzen möge. Sicher, sie wäre unendlich traurig – aber sie war bereit, diesen seelischen Schmerz dafür in Kauf zu nehmen. Und trotz aller Schmerzen, der seelischen und körperlichen, nennt sie Gott „lieber Herr“. Liebt Gott den, den er leiden lässt?

 

Dass christliche Theologie und körperlicher Schmerz miteinander zu tun haben, ist unübersehbar, unüberhörbar. Das Erkennungszeichen für das Christentum ist das Kreuz und nicht das Krippchen. Ohne Jesus, den Schmerzensmann, keine Erlösung. In Kirchenliedern heißt es: „Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu dir sei Dank für alle deine Plagen“. Schmerz willig und gehorsam ertragen: das galt lange Zeit als Weg der Nachfolge, der Identifikation, ja, sogar als ein Zeichen des Auserwähltseins.

 

Nur das Paradies war schmerz- und tränenfrei. Nach dem Sündenfall traten Schmerzen und Tod in die Welt als eine gerechte, von Gott über die Menschen verhängte Strafe.

 

So heißt es im 1. Buch Mose: Und zum Weibe sprach Gott: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären. Erst für das Ende dieser Welt gilt die Verheißung aus der Offenbarung:Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“

 

Der Schmerz ist Zeichen für ein Verstoßensein, ein Bestraftsein, dem sich die Menschen nicht entziehen können und – so wurde früher argumentiert, auch nicht entziehen dürfen. Auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, was der Arzt, Dichter und Pfarrerssohn Gottfried Benn berichtet. Im Jahr 1912 starb seine krebskranke Mutter: „Die qualvoll Dahinsterbende blickte erwartungsvoll auf ihren Ältesten, den frischgebackenen Arzt.“ Der junge Benn wusste natürlich, dass es hier „nur noch Schmerzen zu lindern galt, also Morphium zu geben, wie es in Berlin sogar bei den ärmsten Spitalinsassen in solchen Fällen ein Gebot der Menschlichkeit war.“ Aber mit einem hatte er nicht gerechnet. Nämlich damit, dass sein Vater, der Pfarrer, Nein sagte und jedes Linderungsmittel verbat. Auch die Schmerzen, davon war er überzeugt, so stand es für ihn in der Bibel, sind von Gott geschickt, und wir Menschen müssen sie demütig hinnehmen.

 

Für Vater Benn gab es noch kein „Menschenrecht auf Ohnmacht“, kein „Recht auf Nicht-Dabei-Sein-Müssen“ in Extremsituationen (Sloterdjik). Schmerzen sind als gerechte Strafe Gottes zu ertragen. Davon war der protestantische Pfarrer überzeugt. Genau diese Überzeugung trug auch noch die theologische Debatte um die Anästhesie, besonders bei der Geburt. Der Geburtsschmerz galt als etwas Gottgewolltes, das man nicht beseitigen dürfe.

 

Schmerz gehört zum Leben. Schon das bloße Zähne kriegen tut den kleinen Kindern weh – und das Kinderkriegen den Müttern. Die Umwertung des Leidens zu einem Zeichen des Auserwähltseins ist sicherlich eine kühne Leistung. Allerdings: Dass Gott die „züchtigt, die er lieb hat“, wie es in der Bibel heißt, das leuchtet aber selbst den gläubigen Christen heute kaum noch ein. Den Patienten näher liegt immer die Deutung von Schmerzen als Zeichen der Strafe. Was habe ich getan, dass Gott mich so leiden lässt? fragen viele Patienten, und hadern mit Gott, an den sie schon lange nicht mehr gedacht haben. Diese Deutung schafft zumindest einen Zusammenhang, eine Ordnung. Einen Sinn.

 

Liebt Gott den, den er leiden lässt? Im Schmerz findet sich beides: die Erfahrung von abgrundtiefer Sinnlosigkeit und Sinn. Aber ich hoffe für den Patienten und seine Frau, dass Gott die Bitte, die sie in das Buch der Krankenhauskapelle schrieb, erhört hat.

17.11.2016
Pfarrerin Marita Rödszus-Hecker