Wir gesucht

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Nasa

Wir gesucht
von Melitta Müller-Hansen
07.11.2022 - 06:35
29.07.2022
Melitta Müller-Hansen
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Im Januar hat es seine Umlaufbahn erreicht, anderthalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Im Juli gab es die ersten Bilder. Das „James Webb“-Weltraumteleskop hat das Fenster zum Universum und seinem Ursprung noch weiter geöffnet: Unbekannte Weiten, Dunkles, nie gesehene Formen, Sterne und Sternhaufen, Nebel, unbekannte Galaxien. Es ist ein Blick in die Vergangenheit, auf einige der ältesten Sterne im Universum, entstanden kurz nach dem Urknall. Als noch nichts da war vom Leben.

Ehrlich gesagt: da versagt meine Vorstellungskraft. Jahrmillionen in die Vergangenheit blicken und dass sich das abbilden lässt… Das war den Generationen vor uns noch verwehrt. Sie haben Mythen, Geschichten, Gebete und Lieder erfunden, um sich den Anfang des Seins zu erzählen. Am Anfang war das Wort – Klang, Rhythmus, Struktur. Am Anfang war die Weisheit, sie tanzte und spielte vor Gott. Und sie ist in alles hineingewoben, was geschaffen ist.

All diese Texte und Lieder leben auch von diesem Blick in den Himmel. Die biblische Schöpfungsgeschichte weiß vom Urmeer, aus dem alles Leben kommt. Von Geist und Materie. Vom Sichtbaren schließt sie auf das Unsichtbare. Und das wiederum ist der Ursprung von Religionen. Religionen sind nicht am Schreibtisch entstanden und nicht im Labor. Sie leben alle vom Staunen. Vom kindlichen Staunen.

Ich staune immer wieder über die schlichten Tatsachen, dass wir Menschen etwa aus dem gleichen Stoff sind wie die Sterne. Wir sind Sternenstaub. Dass ich das genetische Material nicht nur zu 99,9 % mit allen anderen Menschen teile, es ist exakt identisch. Ich teile es auch mit allen Säugetieren und anderen Lebewesen. Mit Schimpansen zu 96–98 %, mit der Maus zu 97,5 %, mit Schweinen zu 90 %. Wir alle teilen den gleichen Atemraum. Was wir ausatmen, Kohlendioxid, daraus macht das ganze Grün Sauerstoff. Photosynthese. Sonnenlicht tanken fast alle Lebewesen, um zu wachsen. Dieses Netzwerk des Lebens baut auf Kooperation, auf Verwandtschaft, auf Beziehung.

Und dann gibt es noch eine Seite: die Einzigartigkeit, die ungeheure Vielfalt. Das habe ich mit meinen Kindern gerne gemacht, als sie klein waren: alle Tierchen bestaunt und untersucht, die sie so einsammelten – Würmer, Käfer, Kellerasseln. Auch unsere Hände und Füße, die Augenbrauen, das ganze Gesicht. Nicht mal unsere eigenen Fingerkuppen gleichen einander. Nichts gleicht ganz dem anderen, wir sind verschieden. Jeder Blick in den Spiegel sagt uns das. Jede Stimme, die wir hören, ist unvergleichlich.

Sprecher

„Oder nimm den Kastanienbau im Hof, ja, genau den: Kannst du verstehen, dass unter Billionen und Aberbillionen Blättern, die seit Anbeginn der Welt sprießen, kein einziges dem anderen gleicht? Also, nicht nur die Blätter auf dem Baum sind jedes für sich unterschiedlich, und zwar auch, wenn man alle Blätter nebeneinanderlegte, die der Baum je trug, sondern alle Blätter aller Bäume zu allen Zeiten – kein einziges Blatt, das je gewachsen ist oder wachsen wird, gleicht einem anderen.“

So lädt Navid Kermani seine Tochter zum Staunen ein über Vielfalt und Unendlichkeit. So erzählt er ihr vom Ursprung der Religion. (Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, Hanser Verl, 2022, S 11) Warum ist etwas und nicht nichts? Was war am Anfang? Habe ich Augen für die Schönheit? Wie gehört alles zusammen?

Das Motto der ARD-Themenwoche in diesem Jahr klingt so ähnlich. "Wir gesucht. Was hält uns zusammen?“ Ja: Was hält uns zusammen? Für mich ist es diese Doppelheit von Verwandtschaft und Einmaligkeit. Ich werde nie aufhören, darüber zu staunen. Einmalig und Verbunden mit allem. Das ist eine ganz besondere Weisheit. Und eine hervorragende Voraussetzung für ein lebendiges Wir!

Es gilt das gesprochene Wort.

 

29.07.2022
Melitta Müller-Hansen