Der Weg ins Himmelreich

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Susan Holt Simpson

Der Weg ins Himmelreich
von Michael Becker
12.01.2023 - 06:20
23.12.2022
Michael Becker
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„Alleine machen“, sagt das Kind, zwei Jahre alt. Es steht wacklig auf seinen Beinen, muss sich am Tisch festhalten und will Holzklötze aufeinander legen. Ich will helfen, höre aber, wie das Kind ruft: „Alleine“. Natürlich gelingt das nicht. Eine Hand am Tisch, die andere an den Bauklötzen – das wird schwer. Mehr als drei Klötze kriegt das Kind nie aufeinander. Dann wird alles schief und fällt um. Dem Kind ist das egal. Es fängt wieder von vorne an. Ich kann das, bin schon groß. Das Kind kann kaum auf die Tischplatte schauen und die bunten Klötze sehen. Aber alleine machen muss sein. So wertvoll fühlt sich

das Kind.

          „Alleine machen“ sagt auch die alte Dame, über neunzig Jahre alt. Sie sitzt im Rollstuhl. Ihre Sinne sind häufig verwirrt. Zum Singen kommt sie gerne. In der großen Runde fällt nichts auf. Sie hat ein Liederbuch in den Händen und sucht Seite 12. Ich will helfen. Soll ich aber nicht. Alleine, sagt sie bestimmt und blättert langsam das Buch durch. Als sie die Zwölf sieht, strahlt sie. Sie hat es geschafft. Bei Zahlen geht es noch mit den Sinnen. Sonst ist die Erinnerung zwar nicht weg, aber durcheinander. Manchmal erkennt sie jemanden, strahlt, meint aber einen anderen. Viele wollen ihr helfen. Manchmal sagt sie streng: Nein, alleine.

          Wie ähnlich wir werden dem, der wir mal waren. Hilflos und stolz; klein und doch wichtig; wacklig auf den Beinen und zugleich festen Willens. „Alleine machen“ ist wertvoll. Es zeigt: Ich kann schon etwas; oder: ich kann noch etwas. Ich habe mich nicht aufgegeben; bin noch nicht ganz verloren in einer mir fremden Welt. Wer alt wird und seine Sinne verliert, wird wieder ähnlich dem Kind, das man war. Braucht Hilfe, aber nicht zu viel. Braucht Achtung trotz Verwirrung. Und will wertvoll sein oder bleiben. Wie man Kindern hilft, ein eigener Mensch zu werden, hilft man Alten, ein eigener Mensch zu bleiben. Und sieht auf Verwirrte oder Verstörte nicht mit der eigenen Ungeduld, sondern anders. Nämlich mit dem Gefühl des Menschen, der uns sagte: Wer wie ein Kind ist, kommt ins Himmelreich.

Es gilt das gesprochene Wort.

23.12.2022
Michael Becker