Die Stunden des einfachen Daseins

Wort zum Tage
Die Stunden des einfachen Daseins
31.03.2015 - 06:23
30.03.2015
Pfarrer Michael Becker

Manchmal möchte ich sein wie der ältere Herr, den ich im Straßencafé gesehen habe. Er sitzt in der ersten Frühlingssonne an seinem Tisch, vor sich ein Kännchen Kaffee, einen Stift in der einen Hand und eine Zigarre in der anderen. Er löst ein Kreuzworträtsel, trinkt in Ruhe Schluck für Schluck seinen Kaffee oder nimmt einen Zug aus der Zigarre. Immer wieder schaut er aufs Papier, dann kurz in die Luft. Hat er das gesuchte Wort gefunden, trägt er es sorgfältig ins Rätsel ein. Von nichts lässt er sich stören. Kein Hundegebell, kein Kellner, der nach neuen Wünschen fragt, kein Kind, das einem Ball hinterher rennt - nichts bringt ihn aus seiner Ruhe. Und als der Herr sein Rätsel beendet hat, bleibt ihm noch der Kaffee und die Zigarre. Er ist nur bei sich, lehnt sich im Stuhl zurück und sieht der Welt zu, wie sie sich um ihn herum dreht.

 

Wie dieser Herr möchte ich manchmal sein, das gebe ich zu. Ich will dann nicht mithelfen, dass die Welt sich dreht. Ich will nur für mich sein und bei mir sein und zusehen, wie die Welt sich dreht. Es soll mal nicht auf mich ankommen, ich will dann kein Teil von irgendwas sein. Ich will sitzen, schauen oder auch die Augen zu machen, die Hunde Hunde und die Kinder Kinder sein lassen. Und Gott einen guten Mann. Ihm verdanke ich ja, dass ich so sitzen und schauen kann. Ihm bin ich dankbar, wenn es nicht auf mich ankommt und die Welt sich auch ohne mich dreht. Das sind schöne Stunden oder Tage im Leben, finde ich. Vielleicht die glücklichsten. Die Stunden ohne etwas, ohne Plan, ohne Ziel oder was man sonst so vorhat. Die Stunden des einfachen Daseins.

 

Das Schönste daran ist, dass ich da bin, ohne dabei sein zu müssen. Ich sitze dann wie der Herr im Café auf einem Stuhl, die Welt dreht sich um mich herum und ich löse ein Rätsel oder hänge ein paar Gedanken nach oder sehe den Vögeln zu oder denke einfach nur: Danke. Danke Gott, für mein Alter, für mein Einkommen, für den Kaffee und die Zeit, die du mir schenkst. Und wenn du, Gott, meine Zeit beenden willst, dann mach es doch bitte friedlich. Ohne viel Aufregung oder Schrecken bei mir und meinen Liebsten. Die große weite Welt wird sich auch ohne mich drehen. Bei mir aber mir dreht sich alles um dich.

30.03.2015
Pfarrer Michael Becker