Einfach gnädig sein

Wort zum Tage
Einfach gnädig sein
18.07.2019 - 06:20
13.06.2019
Michael Becker
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Sie ist zwanzig Jahre alt, bildschön und ängstlich. Und zieht lieber Männerkleider an, weil sie Angst hat vor russischen Soldaten. Es gibt schlimme Gerüchte 1945 in Berlin. Aber dann muss sie zum Arzt. Der sieht streng aus und sagt: Machen Sie ihren Oberkörper frei. Die Frau in Männerkleidern zögert. Ganz langsam und etwas zittrig zieht sie erst die Jacke, dann ihr Hemd aus; dann zögert sie wieder beim letzten Kleidungsstück. Nun machen sie schon, sagt der Arzt, der wohl schon eine Ahnung hat. Jetzt fasst sich die Frau ein Herz, zieht ruckartig und etwas zornig ihr Unterhemd über den Kopf und steht mit nacktem Oberkörper vor dem Arzt. Der Arzt sieht, schluckt, holt tief Luft und sagt: Gott sei ihnen gnädig, wenn das unsere Soldaten wissen. Die junge Frau schaut dem Arzt direkt in die Augen und antwortet: Gott ist nicht da. Aber sie sind ja da.

Ein starker Satz. Gesprochen wird er in dem Film „Hilde“ über das Leben der Hildegard Knef (1925 – 2002). Solange Gott nicht selbst hilft, sind immerhin Menschen da. Ebenbilder Gottes. Die vertreten ihn. Der Arzt erschrickt und muss schlucken. Allmählich aber versteht er und schreibt der jungen Frau eine Bescheinigung, dass sie gesund ist, dass sie arbeiten und Geld verdienen kann für ihre Familie. Im Augenblick höchster Not erkennt der Arzt, dass er jetzt Gott ähnlich ist, über ein Leben entscheidet und jemandem einfach gnädig sein muss.

Als ein Bild Gottes vertrete ich ihn auf Erden, sozusagen. Ich kann gnädig sein und verzeihen. Ich darf Menschen aufrichten, Hungrige sättigen und Traurige trösten. Ich muss nicht nur warten, bis Gott selbst eingreift; ich kann schon mal anfangen. Kein Mensch ist für sich selbst auf der Welt. Jeder ist auch Vertreter, jede ist auch Vertreterin, Ebenbild Gottes (1. Mose 1,27). Das ist oft schwer, aber immer schön für Menschen, die es erleben. Wo Gott fern scheint, springen Menschen ein mit ihrer Liebe und ihrer Kraft. Der Arzt hat der Frau das Leben gerettet, zumindest aber Körper und Seele. Ich rette anderen vielleicht eine Stunde oder einen Tag, wenn ich sie grüße, wertschätze oder sonstwie aufhelfe. Dann weiß ich auch, wozu ich da bin auf der Welt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Michael Becker