Gott hat kein Bild von mir

Wort zum Tage

Gemeinfrei via pixabay/ StockSnap

Gott hat kein Bild von mir
Michael Becker
04.05.2022 - 06:20
13.01.2022
Michael Becker
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Ich kannte sie von Ferne. Neulich saßen wir mal an einem Tisch. Und kamen ins Gespräch. Sie ist wohl Ende vierzig und hatte vor vier Jahren einen Schlaganfall. Der beeinträchtig sie beim Gehen und Essen. Manche Bewegungen gehen nicht. Man muss sich damit abfinden, dachte ich, während wir redeten. Sie aber redete anders. Als ich sie nämlich fragte, wie es sich denn lebt mit diesen Einschränkungen, schaute sie mich groß an. Und sagte dann: Ich denke nicht an Einschränkungen. Ich denke an das, was mir möglich ist. Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe.

          Ich habe mich ein bisschen geschämt, als ich das hörte. Geschämt für meine dumme Frage mit den Einschränkungen. Ja, ich habe dabei nur an mich gedacht. An das, was mir möglich ist und ihr vielleicht nicht. Aber sie hat einen anderen Blick. Sie hat ihn sich erarbeitet, könnte man vielleicht sagen. Sie schaut nicht auf das, was ihr fehlt. Sie schaut auf das, was sie kann. Und sagt mir lächelnd: Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe.      

          Diesen Blick möchte ich haben. Vor allem auf das sehen, was ich kann oder noch kann. Und lieber nicht mehr - oder kaum - auf das sehen, was ich vielleicht nicht mehr kann. Ich merke das ja. Wenn man älter wird, geht manches nicht mehr oder nur noch eingeschränkt. Da ist es wieder, das Wort „eingeschränkt“. Es stimmt auch. Manchmal muss man sich einschränken. Aber man sollte sich davon möglichst nicht bestimmen lassen. Wer nur auf das schaut, was ihm oder ihr alles fehlt, wird leicht missgestimmt oder gleich richtig bitter. Wie anders klingt da: Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe. Auch wenn die vielleicht klein sind oder weniger geworden sind als früher. Gott hat ja kein Bild von mir, dass ich nur so oder so aussehen darf oder dies oder jenes können muss. Gott geht es nicht darum, was ich kann oder nicht kann, sondern dass ich mir einen freundlichen Blick bewahre, den menschlichen Blick. Und mich möglichst an dem erfreue, was ich kann. Auch wenn es gering ist. Eins geht doch immer, denke ich: Dass ich auf das schaue, was mich dankbar macht.

Es gilt das gesprochene Wort.

13.01.2022
Michael Becker