Als wären sie ein Teil von mir

Wort zum Tage
Als wären sie ein Teil von mir
07.09.2020 - 06:20
05.09.2020
Michael Becker
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Der Wachmann sieht streng aus in seiner Uniform. Er steht im Eingang des Warenhauses; ein edles Warenhaus. Hier darf nicht jeder hinein. Ich bin nicht weit entfernt und erkenne, dass er so auf Menschen sieht, als sehe er nicht hin. Tut er aber. Denn jetzt kommt ein Mann, der ein bisschen ärmlich aussieht, zerzauste Haare, der Mantel viel zu groß. Er will sich wohl aufwärmen bei Licht und Glitzer. Der Wachmann macht nur ein paar Schritte und versperrt dem Mann den Weg. Gesprochen wird nicht. Der etwas Zerzauste will gerade weggehen, da kommt ein junger Mann, vornehm gekleidet. Er muss das Ganze beobachtet haben wie ich. Er tritt dazu und sagt zum Wachmann: Lassen Sie mal, der Herr gehört zu mir. Und zum Zerzausten sagt er: Komm mein Freund, wir gehen. Und gehen ins Haus, ins Licht und in die Wärme.

        Mir bleibt der Mund offen stehen, glaube ich. Und im Stillen denke ich, was man heute so oft laut sagt: WAHNSINN! Das gibt es also. Der junge Mann macht aus einem peinlichen Moment ein Ereignis. Der Ärmliche weiß wohl gar nicht, wie ihm geschieht. Und der strenge Wachmann überlegt bestimmt, wie die beiden wohl zusammenpassen. Drei Menschen in einer seltsamen Lage, einer davon befreit sie. Und ich werde Zeuge.

        Zeuge einer Menschlichkeit sondergleichen. Auf so eine Idee muss man ja erst einmal kommen. Woher der junge Mann das wohl hat, frage ich mich. Frage ich heute noch, wenn ich daran denke. Vielleicht war es der Einfall eines Moments, vielleicht gehört das aber auch zu dem jungen Mann. Und er ist immer achtsam auf die, die aus der Welt fallen, in seine Welt nicht zu passen scheinen. Scheinen sage ich, denn es stimmt ja nicht. Zum Menschen passen immer Menschen. Alles andere ist künstlich. Der Mensch ist des Menschen Freund, eigentlich. Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut, heißt es sogar. Eigentlich. Oft ist es anders, ich weiß. Hier aber nicht. Hier werde ich Zeuge einer Menschlichkeit, die ihresgleichen sucht. Und wünschte mir solche Einfälle, wenn wieder mal gespottet und gehetzt wird gegen andere Menschen. Sie einfach in Schutz nehmen wie in einen Mantel. Als wären sie ein Teil von mir.

05.09.2020
Michael Becker