Mit dem Rücken zur Wand

Wort zum Tage
Mit dem Rücken zur Wand
10.09.2020 - 06:20
05.09.2020
Michael Becker
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Doch, sagt er mir, das mache ich manchmal. Er sieht wohl meine Zweifel, lacht etwas verlegen und sagt nochmal: Doch, manchmal frage ich einfach so ins Blaue hinein. Neulich zum Beispiel, im Wartezimmer. Ich bin genervt, sagt er. Das dritte Mal in der Woche muss ich zum Arzt. Ohne Termin. Das Wartezimmer ist übervoll. Nicht ein freier Stuhl. Ich lehne mich an die Wand. Das kann jetzt aber dauern, sagt die Helferin. Ich mit dem Rücken zur Wand und entzündeten Augen. Kann kaum richtig gucken. Dann passierte es, sagt er. Eigentlich könnte ich heulen. Will ich natürlich nicht im Wartezimmer. Also atme ich lieber tief durch und frage ganz still vor mich hin: Was soll das alles, Gott? Was willst du von mir diese Woche?

        Was hat das denn Gott damit zu tun?, frage ich etwas verblüfft. Alles, sagt er. Oder nichts. Ich muss doch immer wählen. Wenn ich heulen könnte mit dem Rücken zur Wand, hat Gott entweder damit zu tun - oder eben nicht. Ist doch so, oder?, sagt er. Entweder gibt es Gott, dann ist er auch da und schläft nicht. Oder es gibt Gott nicht, dann ist alles Zufall. Das überlege ich da im Wartezimmer mit dem Rücken zur Wand. Dann wird endlich ein Stuhl frei. Aber an der Reihe bin ich noch lange nicht. Ich sitze, schaue zu, höre auf Stimmen und sehe Pflaster und Augenklappen. Menschen mit Sorgen im Gesicht. Er macht eine Pause.

        Und sagt dann, etwas zögerlich: Auf einmal fällt mir eine Antwort ein. Im Wartezimmer auf meinem Stühlchen. Ich sage mir: Vielleicht soll ich das alles sehen. Ich, aus dem gesunden Teil der Welt. Gut, in dem Moment vielleicht nicht, aber bisher ja immer. Meine Welt ist doch meist rosig. Im Wartezimmer aber ist Leid. Und Angst. Grauer Star, weniger Sehkraft, Schmerzen und Seufzer. Vielleicht, sagt er, soll ich das sehen. Den traurigen Teil der Welt. Wo sie häufig mit dem Rücken zur Wand stehen, nicht nur eine halbe Stunde wie ich heute. Das wäre doch möglich, sagt er zu mir, dass Gott mir auch traurige Zeichen gibt. Und zeigt: Da ist mehr als nur rosige Zeiten und leuchtendes Glück. Manchmal zeigt Gott mir vielleicht sowas, sagt er. Wenn es mal sein muss. Damit ich das Leben mitfühle, demütig werde. Und dankbar.

05.09.2020
Michael Becker