Sonntagnacht, halb zehn in Dresden

Sonntagnacht, halb zehn in Dresden
mit Theologieprofessorin Julia Enxing
03.02.2024 - 23:50

Sonntagnacht, halb zehn in Dresden. Draußen ist es bitterkalt, stockdunkel und spiegelglatt.

Doch hier drinnen im Gemeindezentrum meiner Kirchengemeinde, die sich dazu entschieden hat, ihre Türen für obdachlose Menschen zu öffnen, hier ist es warm und hell, die wenigen Räume sind gefüllt mit den Stimmen dieser Welt und den Gerüchen der Straße. Die ersten haben sich schon zum Schlafen hingelegt, erschöpft von einem weiteren Tag draußen, einem weiteren Tag, den es rumzukriegen gilt, einem weiteren Tag, an dem es darauf ankommt, sich zwischen Einkaufszentrum, Straßenbahnfahrten und warmen Gebäudeschächten irgendwie vor dem Erfrieren zu bewahren.

Der Einlass endet in der Regel um zwanzig Uhr. Sonntagabend halb zehn heißt für uns Ehrenamtliche schon: mit gedämpfter Stimme sprechen, das Geschirr leise spülen, die Tisch sind schon abgewischt, Handtücher und Bettwäsche sind schon verteilt, die ersten Waschmaschinen bereits gelaufen.

Während ich gerade die Reste des Eintopfs in einen kleinen Topf umfülle, kommt ein junger Mann in den Gemeindesaal, neben ihm einer, dem man die Härte eines Lebens auf der Straße schon von Weitem ansieht. „Entschuldigung“, ruft der junge Mann, „Entschuldigung, sind sie hier die Ansprechperson?“. „Ja, wie kann ich helfen?“ Und dann erzählt der der Jüngere, dass er den Mann am Bahnhof draußen auf einer Bank sah, vorhin schon und das geht doch nicht. Draußen ist es doch viel zu kalt, er wird doch die Nacht nicht draußen überleben können. Und dass er, der junge Mann, Pizza-Taxi fährt und sich vorgenommen hat, wenn er bei der nächsten Tour wieder an ihm vorbeifährt und er noch immer dasitzt, dann wird er anhalten. Denn das geht doch nicht, nachts draußen, so alleine. Gesagt getan. Er hält an. Stellt den Motor seines Pizza-Taxis aus. Unterhält sich mit dem Herrn, findet heraus, auf welcher Sprache er sich mit dem Übersetzungsprogramm seines Handys mit ihm verständigen kann. Findet heraus, dass der Mann tatsächlich kein Dach über dem Kopf hat, auch nicht weiß, wo er hingehen kann, vergessen hat, wo man aufgenommen wird und wie er dahin kommt. Der Pizza-Mann recherchiert im Internet und findet das Angebot meiner Kirchengemeinde. Er bringt ihn zu uns.

„Darf er hier schlafen? Kann er noch etwas zu essen bekommen?“ „Selbstverständlich!“ „Kostet das hier eigentlich was?“, fragt der Pizza-Taxi-Mann? „Normalerweise nehmen wir einen Euro, mehr ein symbolischer Betrag, sage ich“, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Erstmal warmes Essen und Aufwärmen, den Rest klären wir dann. „Auf keinen Fall“, sagt der Jüngere. Ich bekomme doch immer Kleingeld als Trinkgeld, warten sie mal. Und dann kramt er ein zwei Euro-Stück aus seiner Hosentasche und legt es vor mich. Stimmt so. Ich bringe diesen Mann, ich bezahle auch für ihn.

Das ist das Mindeste.

Und dann bedankt er sich und wendet sich noch einmal dem Obdachlosen zu, reicht ihm die Hand, und spricht „Es hat mich gefreut Sie kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und alles Gute!“ in das Übersetzungsprogramm seines Handys. Dann verschwindet das Pizza-Taxi in die Nacht. 

Kennen Sie Geschichte des barmherzigen Samariters aus dem Lukasevangelium? Nein? Macht nichts, das war sie. Sonntagabend, halb zehn in Dresden.