Spurensuche
Unser Leben wird ein anderes sein
11.04.2020 10:00

 

Eine ganz neue Erfahrung

Ich kann es nicht erwarten, hier wieder rauszukommen! Gut, ich stehe nicht unter Quarantäne. Aber das deutschlandweite Kontaktverbot in der Öffentlichkeit aufgrund der Covid19-Pandemie gibt mir doch das Gefühl, in meiner Wohnung eingesperrt zu sein. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Wenn ich einen Schritt vor die Haustür setze, muss ich mich plötzlich an neue Regeln halten. Ich beobachte mich selbst, überlege, ob ich auch alles richtig mache. Hände waschen, Abstand halten, ja nichts anfassen … und ich gehöre noch nicht einmal zu einer Risikogruppe.

Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich gegenüber ein Pflegeheim für alte Menschen. Dort kann natürlich niemand mehr besucht werden. Wann geht diese Zeit vorbei? Wann kehrt endlich wieder Normalität ein?

 

In der Welt der Toten

An Karsamstag erreicht das zentrale Geschehen des christlichen Glaubens einen toten Punkt. Karfreitag und die Kreuzigung waren gestern. Ostern und die Auferstehung sind noch Zukunftsmusik. Was soll diese Zwischenzeit? Überliefert ist, dass Jesus den zweiten Tag in der Welt der Toten verbrachte. In vielen Kirchen wird das als Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisses sogar in jedem Gottesdienst bezeugt.

Für die US-amerikanische Theologin Shelly Rambo ist der Karsamstag Ausgangspunkt für ganz grundlegende Überlegungen. Gerade in dieser Grauzone zwischen Tod und Leben findet sich ein wertvoller christlicher Impuls, sagt sie. Denn allzu oft möchten wir tatsächlich vom Karfreitagsgeschehen gleich übergehen zu Auferstehung und dem Triumph des Lebens über den Tod. Wir wünschen uns einen Neuanfang, der alles Schwere zuvor vergessen lässt. Doch hier sieht Shelly Rambo eine Gefahr. Denn das Leben vieler Menschen, die eine Krise durchlebt haben, sieht anders aus.

In ihrem Buch „Spirit And Trauma“ arbeitet sie mit Erkenntnissen aus der Traumatheorie und fragt sich, wie Kirche auch für Menschen da sein kann, die schwere Krisen erlebt haben und diese Erlebnisse bis heute nicht bewältigen können. Traumatisierten Menschen gelingt es oft nicht, mit der eigenen Geschichte ihren Frieden zu machen und neu anzufangen. Ein zufällig gehörtes Wort, ein Bild oder sonst ein Reiz können jederzeit und unwillkürlich den Krisenmoment erneut entstehen lassen. Die Verletzung, die Gefahr oder auch der Verlust sind dann keine Erinnerung, sondern echt erlebte Gegenwart.

Bei Aufbauarbeiten in New Orleans nach dem verheerenden Sturm Katrina ist Shelly Rambo vielen begegnet, die damit zu kämpfen haben. Es gibt eine öffentliche Erwartung, die Dinge positiv zu sehen, mit der Vergangenheit abzuschließen und alles neu aufzubauen. Doch für einige, die in dem zerstörten Armenviertel  gelebt hatten, sind die Auswirkungen des Sturms heute realer denn je. Ihre Heimat gibt es nicht mehr. Der Sturm wird immer ein Teil von ihnen bleiben.

 

Auch Jesus ist nicht mehr derselbe

Ähnlich wird es auch vielen gehen, wenn die Covid19-Krise einmal vorbei ist. Natürlich wünschen wir uns ein Ende der Krise und wollen nichts mehr, als hinterher wieder zu unserem gewohnten Leben zurückkehren. Doch unser Leben nach Covid19 wird ein anderes sein. Der Tod hat dann Spuren im Leben hinterlassen.

Diese Spuren gilt es zu sehen und auszuhalten. Gemeinsam mit den Menschen, die damit  überfordert sein mögen und unter vermeintlich Vergangenem weiter leiden. Eine besondere Herausforderung auch und gerade für Christinnen und Christen mit der guten Nachricht von einem Leben und einer Liebe, die über den Tod hinausreicht. Die den Tod aber eben nicht ignoriert oder zu überspielen versucht.

Morgen wird in christlichen Gottesdiensten in Deutschland zumindest online der auferstandene Jesus gefeiert. Doch auch er trägt Wunden. Er ist nicht mehr derselbe, ein Mensch zwischen Tod und Leben. Ein Paradox, ein Gegensatz, der schwer auszuhalten ist. Aber mindestens einen Karsamstag lang haben wir dafür Zeit.